Taiwan

Unter Göttern und Dämonen

Immer mitten im Leben: Jeden Morgen wird der Shui-Xian-Tempel zum Marktplatz. Foto: fh

Taiwan: Dank eines Hochgeschwindigkeitszugs ist das traditionelle Tainan zum Ziel für Tagesausflüge geworden

Dunkel ist es im Tempel des Kriegsgotts, nur undeutlich ahnt man den Altar hinter den dichten Rauchschwaden. Immer wieder drängen neue Besucher an den großen Kessel, um noch eine Handvoll Räucherwerk anzuzünden. Eine kurze Verbeugung vor dem Kriegsgott oder einem seiner zahlreichen Kollegen des daoistischen Pantheons, dann geht es hinaus an den Ofen im Seitenhof. Hier wird das „Totengeld“ verbrannt: quasi eine transzendentale Überweisung, die den Vorfahren per Feuer zugestellt wird. Denn auch im Jenseits gilt es einzukaufen und den einen oder anderen niederen Gott mit Präsenten günstig zu stimmen.

All dies gibt es im Grunde überall im chinesischen Kulturraum. Doch Tainan, die kleine Stadt im Süden der Insel Taiwan, ist immer eine Spur konservativer gewesen. Götter, Geister, Ahnen und Dämonen sind allgegenwärtig, mit sichtbaren architektonischen Folgen.

Nicht nur, dass es hier noch erheblich mehr Altbauten gibt als beispielsweise in Taipeh. Die bunte Mischung aus Daoismus, Geisterglaube und Buddhismus gibt der Stadt einen erstaunlich bunten Anstrich. Sprichwörtlich an jeder Ecke steht ein Tempel, manche davon so klein, dass sie mit drei Besuchern gut ausgelastet sind. Welchem Glauben sie gewidmet sind, ist dabei nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen und im Grunde sowieso unwichtig: Nach dem Motto „einer geht noch“ finden auch daoistische Tempel eine ruhige Ecke für einen Buddha oder eine Bodhisattva-Figur, so dass die Besucher alle religiösen Anliegen in einem Aufwasch erledigen können.

Aus demselben praktischen Gedanken heraus sind die Statuen des Tempels auch mobil gehalten: Wer ein besonders langwieriges Anliegen hat, zum Beispiel die Genesung eines Angehörigen, der nimmt den passenden Gott einfach leihweise mit nach Hause und spart sich so den Weg zum täglichen Gebet.

Derartige Geschichten gäbe es über fast alle Tempel zu erzählen. Viel Material für Reiseleiter also, das mit ein wenig Glück zur Anwendung kommt. Tainan ist mittlerweile sogar zum Tagesausflug geworden – dank des Hochgeschwindigkeitszugs Taiwan High Speed Rail, der mit atemberaubenden 300 Stundenkilometern über die Insel flitzt. So ist Taipeh nur noch anderthalb Stunden Fahrt entfernt, eine normale Zugfahrt dauert dagegen rund fünf Stunden.

Die Stadt der Tempel mit ihren rund 750.000 Einwohnern hat alles, was eine Touristenattraktion braucht: Für die asiatischen Besucher sind es die „Xiaochi“, die kleinen Snacks der Nachtmärkte, die als landesweit beste gelten, für die westlichen Besucher ist es der Hauch des alten China, den die Stadt trotz aller Modernisierungen bewahrt hat.

Und seit das Shangri-La-Hotel mit seinen 39 Stockwerken wie ein Käsespießchen aus dem Häusermeer ragt, gibt es nicht nur eine internationale Unterkunft in Tainan, sondern auch einen Orientierungspunkt, der unerschrockene Individualreisende wieder nach Hause lotst – auch ohne göttlichen Beistand.
Françoise Hauser
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