Vietnam

Hanoi: Frühmorgens bei König Ly

Das Opernhaus gehört zum Erbe der Kolonialzeit.

Eine Zeitreise durch 1.000 Jahre Geschichte

Ho Chi Minh steht auch bei jungen Leuten noch hoch im Kurs. Fotos: mam

Es ist 5.30 Uhr. Eine Stunde bevor sich die rund anderthalb Millionen Einwohner Hanois auf ihre Mofas schwingen, und eine an- und abschwellende Kakophonie aus Geknatter und Gehupe rund um den Hoan-Kiem-See ausbricht. Man muss nicht unbedingt Tai-Chi-Praktiker sein, um sich hier vor Sonnenaufgang unter die Frühsportler bei Jogging und Federball zu mischen – im Angesicht von König Ly Thai Tos Statue. Der erste Herrscher der Ly-Dynastie hatte im Jahr 1010 die alte Hauptstadt Vietnams ans Ufer des Roten Flusses verlegt. Und das wird am 10.10.10 gefeiert – mit einem fulminanten Feuerwerk und der Amnestie von Tausenden Häftlingen.

Die Hauptstadt Vietnams ist eine der schönsten und ältesten Städte Asiens: Hunderte von farbenprächtigen Tempeln und Pagoden neben französischen Kolonialbauten und Art-déco-Villen in weichen Ockertönen, sozialistische Protzbauten neben spiegelverglasten Hochhaustürmen.

36 Zünfte hatten in der Altstadt ihren Sitz, und wie einst werkeln in den Gassen noch immer Nachfahren der früheren Berufsstände, etwa in der Straße der Bambuswaren (Hang Tre) oder in der Hang Quat, in der sich religiöse Devotionalien stapeln. Das Leben spielt sich auf dem Holzschemel mitten auf dem Bürgersteig ab. Die dampfende Reissuppe wird schon morgens um sechs Uhr auf dem Fahrrad durch die Gassen gefahren. An einer Ecke hocken einige Alte bei Bia Hoi (Bier) und Co Tuong, einer Art chinesischem Schach. Daneben ist der Ohrenputzer konzentriert bei der Arbeit – einer der ältesten asiatischen Berufe.

Bis zu 60 Meter erstrecken sich die extrem schmalen „Röhrenhäuser“ hinter der unscheinbaren Fassade: Werkstatt, Wohn- und Schlafraum, Küche und Lagerraum, alles hintereinander durch Innenhöfe beleuchtet und belüftet. Das Bett ist verborgen hinter einer spanischen Wand, die Altäre für die Ahnen und den Küchengott hängen in der Ecke.

Wer die „jüngere“ Geschichte Vietnams erleben will, sagen wir die letzten 1.000 Jahre (von immerhin 4.000), besucht das Wasserpuppentheater Thang Long und sieht zu, wie die Vietnamesen seit vielen Generationen die Puppen übers Wasser tanzen lassen. Auch im Literatur-Tempel Van Mieu wurde schon vor 1.000 Jahren gelehrt und über Prüfungsaufgaben in der ersten konfuzianischen Universität Vietnams geschwitzt.

Nirgendwo kann man in die koloniale Ära besser hineinschnuppern als im Sofitel Legend Metropole: Illustre Gäste wie Graham Greene, Charlie Chaplin oder Fidel Castro und tragisch-komische Anekdoten treffen in der ehrwürdigen Herberge aufeinander. So hatte ein französischer Offizier bei einem Stromausfall im Beaulieu-Restaurant einen Kellner erschossen – versehentlich.

Für die sozialistische Spurensuche reiht man sich im Gleichschritt ein in die Schlange am Ho-Chi-Minh-Mausoleum, um am verehrten und jährlich frisch „konservierten“ Landesvater vorbeigescheucht zu werden. Bloß nicht andächtig stehenbleiben – nach nicht einmal zwei Minuten ist man wieder draußen.

Im auslaufenden Jahrtausend schwappte schließlich mit MTV, den Touristen und den zurückkehrenden Übersee-Vietnamesen der moderne Lifestyle nach Vietnam: Gucci, Shiseido und Mercedes. Mehr und mehr verdrängen Designer-Boutiquen und Souvenirläden, Galerien und trendige Restaurants die Bewohner aus ihren typischen Altstadt-Wohnläden.

Die jugendliche Schickeria der Hauptstadt trifft sich abends am West-See, Hanois schickster Gegend, etwa im „Highland Coffee“ bei Musik und Snacks, die alle zwei bis drei Euro kosten. Bei „Minh’s“ erklingt Live-Jazz vom Feinsten – Barbesitzer Quyen Van Minh unterrichtet Saxophon am Konservatorium – und man kann die Zeitreise im Hier und Jetzt ausklingen lassen.
Martina Miethig
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