Indien

Kalkutta: Asien für Experten

Touristisches Highlight ist das Victoria Memorial.

Touristisches Highlight ist das Victoria Memorial.

Die Stadt verstört seine Besucher und zieht sie dennoch in den Bann

In Kalkutta spielt sich das Leben für viele Menschen auf den Straßen ab.

In Kalkutta spielt sich das Leben für viele Menschen auf den Straßen ab.<br>Fotos: istockphoto, mk

Große Städte faszinieren, ganz große stoßen ab. Vor allem Kalkutta gilt seit jeher als Hort der menschlichen Apokalypse. Die Hauptstadt von Westbengalen ist eine Megacity mit Megaproblemen. Manche Besucher hassen sie. Viele aber lieben sie.

Wie groß der Schatten ist, der auf dieser Stadt liegt, wird unter anderem im Roman „Zunge zeigen“ von Günter Grass deutlich. Er beschreibt Kalkutta in ganz besonders düsteren Farben. Die Stadt ist für ihn ein „Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte“. Dennoch blieb er sechs Monate und kehrte später sogar zurück.

Wie das zusammengeht? Ein Kalkutta-Besuch ist eine der intensivsten Erfahrungen, die ein Städtereisender machen kann. Diese Stadt schafft einen, mit ihrem Lärm, ihrem Dreck und ihrer Faszination. Vor nichts muss man sich in Kalkutta fürchten, denn die Stadt ist keineswegs ein Hort krimineller Energie. Sie ist aufregend und einmalig. Und sie ist vermutlich das einzige funktionierende Chaos dieser Welt, weil das Chaos hier keinen Anfang und kein Ende nimmt.

Wer Kalkutta verstehen will, muss als Erstes in ihr schwarzes Herz blicken. Es schlägt im Tempel der Kali. Die schwarze Schutzpatronin gab der Stadt einst ihren Namen. Kali bedeutet die Schwarze und Kalikata hieß die erste Siedlung des späteren Kalkuttas. Hindus verehren Kali als die Zerstörerin, weil sie zugleich auch dafür sorgt, dass Neues entstehen kann. „Unsere verrückte Mutter“, sagt ein Gebet, „die nimmt und gibt, gibt und nimmt.“ Ihr Tempel ist eine der heiligsten Pilgerstätten der Hindus.

Wer Kalkutta verstehen will, geht zum Fluss. Genauer gesagt zum Hugli, einem Nebenarm des Ganges. Sein Ufer ist in Ghats gegliedert, wo gläubige Hindus beten, ihre Toten verbrennen und magische Rituale vollziehen. Im Stadtviertel von Kumartuli sind Handwerker das ganze Jahr über damit beschäftigt, aus Flussschlamm des Hugli Kali-Figuren zu modellieren und in den buntesten Farben zu bemalen. Noch bevor das Jahr zur Neige geht, ziehen große Prozessionen zum Hugli, wo die zum Teil mehrere Meter hohen Skulpturen ins Wasser gelassen werden undwieder zu dem Schlamm werden, aus dem sie einst entstanden waren.

Wenn es in Kalkutta ums Sterben geht, kommt man nicht umhin, an die Ordensschwestern in ihren typischen weißen Saris mit den blauen Rändern und an das Hospiz von Mutter Teresa zu denken. Es ist ein ockerfarbener Bau unweit des Kali-Tempels. Mehr als 80.000 Männer und Frauen betreut der Orden jedes Jahr.

Es ist keine Schande, Kalkutta nicht gleich beim ersten Besuch durchschaut zu haben – ganz im Gegenteil. Wer Kalkutta verstehen will, muss wiederkommen. Schließlich gibt es keinen Grund, an der Unergründlichen zu verzweifeln. Selbst wenn einen an jeder Straßenecke die Probleme der ganzen Welt erwarten.

Unser Problem ist, dass Europäer wohl nie die Gelassenheit der Hindus annehmen können. Für sie ist das Leben wie eine Taxifahrt: einsteigen, aussteigen, umsteigen und im nächsten Leben auf eine Verbesserung hoffen.
Margit Kohl