Australien

Geschichten in Bildern

Australien: Im roten Zentrum leben die Legenden der Aborigines als Malereien weiter

Voller Geschichten ist die Landschaft. Nur Eingeweihte kennen die Geheimnisse. „Nichts ist zufällig. Alles hat seinen Platz“, sagt Nora Long Napanangka, bald 80 Jahre alt und mit einer Haut, die nur aus tiefen Furchen zu bestehen scheint. Sie zeichnet gerade ein Traumbild jener Region im Outback, die seit Urzeiten mit ihrem Stamm verknüpft ist und die ein Fremder deshalb niemals malen dürfte.

Heilige Orte
„Du musst es anschauen wie Vögel das Land betrachten: von oben“, sagt sie. Ihre Finger reisen über das Bild wie über eine Karte. „Hier ist ein Wasserloch. Dort ist eine Feuerstelle mit Menschen“, sagt die Künstlerin über einen Kreis, umgeben von Punkten, die sich zu vielen kleinen Bumerangs geformt haben.

Von heiligen Orten der Frauen vom Stamm der Warlpiri erzählt dieses Bild, von geheimen Ritualen. „Als ich jung war, haben die Alten unsere Legenden in den Sand gemalt. Jetzt ist die Leinwand unser Medium. Die Geschichten der Vorfahren, die das Land mit allen Pflanzen und Tieren geformt haben, sind noch lebendig.“

Seit etwa 40.000 Jahren produzieren Australiens Ureinwohner Malereien – es ist die älteste Kunsttradition der Welt, die heute noch besteht. Sie brachten ihre Schöpfungsmythen in Höhlen an, bemalten damit Felsen, Schilde und Speere. Heute gibt es die Kunst der Ureinwohner überall in Australien, mal in schicken Galerien, mal an einfachen Souvenirständen. Doch wer tiefer eindringen will in die Geschichten, kann auch mit Guide Phil Taylor von „Way Outback“ auf Tour gehen. Im roten Zentrum des Kontinents führt er Besucher erst zu den alten Ockerminen der MacDonnell Ranges und dann in die Siedlungen der Künstler.

Tief im Outback
Die haben sich weiterentwickelt. Es gibt nicht nur Motive von Buschtomaten und Spinifexgras, von Käferlarven und Emus. Abstrakte Werke stechen hervor: Mal symbolisieren wild zuckende weiße Linien die Geschichte eines Blitzeinschlags, mal kommt die Legende vom Kängurumann auf die Leinwand. „Die Künstler widerlegen das Vorurteil, die Kunst der Aborigines sei im Grunde genommen immer das gleiche“, sagt Judith Ryan, Kuratorin der National Gallery of Victoria in Melbourne. „Aus uralten Designs wird abstrakte Kunst. Formen und Farben sind aber nicht beliebig: Jedes Bild repräsentiert einen Ort und eine Geschichte.“

Orte wie Kintore, Kiwirrkuka und Kaakuratintja liegen tief im Outback: Ein paar Tage dauert die Tour von Alice Springs und dem heiligen Inselberg Uluru. Wer aber bereit ist, mit Guide am Lagerfeuer zu kochen und im Zelt zu schlafen, trifft dann in einer Landschaft mit glitzernden Salzseen und wandernden Sandhügeln, mit schroffen Felsen und offenen Ebenen und heiligen Wasserlöchern auf Maler in selbstverordneter Abgeschiedenheit. Sie malen, was die Wesen der Traumzeit geschaffen haben, als sie durch das Land reisten und es so erschufen. Und sie malen die mit ihrem Land verwobenen Geschichten, damit sie niemand vergisst.
Helge Bendl
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