Estland

Nordestland: Eine Region putzt sich heraus

Bootsführer Mehis Luus zusammen mit der Gruppe auf seinem eigens restaurierten Rettungsboot. Fotos: sw

Unterwegs im noch unentdeckten Nordosten des Landes

Vier stumme Gestalten sitzen im Gastraum der einzigen Raststätte auf der Autobahn E20 Richtung Narva. Auf einem Flachbildschirm schaut das Quartett, wie Truckerfahrer in einer amerikanischen TV-Serie ihre Riesengefährte durch Schnee und Eis lenken. Unsere Gruppe muss weiter, denn wir sind auf dem Weg in den Nordosten Estlands, eine noch unbekannte Region, die auf die touristische Landkarte drängt. Das Fremdenverkehrsamt Visit Estland will auf dieser Reise mit den Vorurteilen um das Grenzgebiet zu Russland und Finnland aufräumen. 

Zuerst besuchen wir Schwester Olga Ignatie. Sie führt pflichtbewusst durch das russisch-orthodoxe Kloster Pühtitsa (Püchtitz) in Kuremäe. Zusammen mit 100 Nonnen aus der ehemaligen Sowjetunion und zwei Estinnen lebt und arbeitet Olga in der 1891 errichteten Anlage. Frauen müssen im Kloster ein Kopftuch tragen. Neben Gästehäusern betreibt der Orden seit den Olympischen Spielen von 1980 in Moskau ein Hotel.

Weiter geht’s Richtung Wasser: Der Einheimische Mehis Luus fährt uns in der Nähe des Traditionskurorts Toila mit einem Seenotrettungsboot aufs Meer. Von dort zeigt er uns die Kreidefelsen von Ontika. Sie sind Teil des 1.000 Kilometer langen Baltischen Glints, der von Schweden bis Russland reicht und hier mit 56 Metern maximale Höhe erreicht. 

Im größten Landschaftspark Estlands, Oru, gibt es Höhlenquellen und Wanderwege zur Küste. Mit einem sanierten Rettungsboot aus dem 19. Jahrhundert will Luus Ausflugsfahrten zur Steilküste mit Kalk-, Sand- und Lehmschichten anbieten. Eine passende Unterkunft steuert Tönis Kaasik bei. Der von ihm restaurierte Gutshof Saka Manor mit Herrenhaus im Neo-Renaissance-Stil und Park bei Kohtla-Järve lädt zum Verweilen ein. Der Hotelier ließ ein Stahltreppengerüst an der Steilküste errichten, damit Hotelgäste beim Blick nach Finnland direkt an das Ostseeufer gelangen. 

Verwegen ist es in Sillamäe. Die in Sowjetzeiten wegen Uranoxid-Produktion geheim gehaltene Stadt tauchte auf keiner Karte auf. Heute leben im vormaligen Petersburger Kurort 13.000 Einwohner in einer teils maroden Mischung aus stalinistischen Pracht- und sozialistischen Wohnbauten. Aus privater Sammlung entstand ein Museum. In einer Filiale im Luftschutzkeller des Kulturzentrums dokumentiert es die Sowjetzeit.

Tiefe Wälder, Entspannung und private Unterkünfte finden Reisende im Nationalpark Lahemaa. In eines der zahlreichen Moore führt der Wanderweg Selisoo im Maetaguse-Wald. Auf Bretterwegen balancierend, die mit Schautafeln versehen sind, lässt sich der Sumpf mit ausgebildeten Moorteichen erkunden. Auch hier in Stille und Verbundenheit mit der Natur gibt es gratis Internet-Zugang. Den hat sich Estland als Vorreiter auf die Fahnen geschrieben. Seit 2010 fördert die Region Ida-Viru Maak, zu der auch das neue interaktive Bergwerksmuseum zur Ölschiefer-Gewinnung in Kohtla-Nömme gehört, die touristische Entwicklung. Das Ziel ist ambitioniert: Bis 2020 will der Nordosten Estlands zweitstärkste Region werden.

Sabine Neumann