Brasilien

Vorhang auf für das moralische Theater

Eine elegante Promenade sucht man in Salvador da Bahia vergeblich.

Bahia: In dem brasilianischen Bundesstaat liegen Naturschutz und Ressourcen-Missachtung dicht beisammen

Seit 1985 ist die Altstadt Unesco-Welterbe.

Zu den Schmuckstücken zählt die Kirche Sao Francisco. Fotos: pa

Die Kinderstube ist ein kleines Becken ohne Ecken und Kanten. Frisch geschlüpfte Baby-Schildkröten, kaum handtellergroß, tummeln sich übermütig in dem Hort der Sorglosigkeit, erforschen die Grenzen, knuffen sich an, paddeln eilig zu jedem Kräuseln der Wasseroberfläche: Gibt es Futter?

Seit mehr als 30 Jahren kümmert sich das Projeto Tamar mit 21 Stationen um den Schutz der Meeresschildkröten in Brasilien. In Praia do Forte nördlich von Salvador da Bahia veranschaulicht ein Besucherzentrum den Zweck des Projekts: Becken mit kecken Neugeborenen, Panzermodelle von bis zu 700 Kilo schweren ausgewachsenen Brocken - Anfassen erwünscht - und ein Beutel mit Plastikresten. Er enthüllt, was sich im Magen eines Schildkrötenlebens ansammelt, weil die Tiere Plastik und Quallen nicht auseinanderhalten können - und ist eine Anklage gegen die Verschmutzung des Atlantiks.

Die Schildkröten können sich auf einer Insel der Glückseligen wähnen, denn der südamerikanische Big Player Brasilien ist nicht zimperlich im Umgang mit Ressourcen. "Die Brasilianer lieben alles, was neu ist", eröffnet Tourguide Gustavo - Gustl aus Niederbayern - den Besuch von Salvador da Bahia, mit drei Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes und die touristische Nummer drei hinter Sao Paulo und Rio de Janeiro. Früher konnte sich die Küstenmetropole auch mit dem Hauptstadttitel brüsten, verlor diesen aber zunächst an Rio und später an das Reißbrett-Artefakt Brasilia. Heute reicht es noch zur Kapitale des Bundesstaats Bahia, der aber immerhin so groß wie Frankreich ist.

Salvador ist nicht stolz auf diese Geschichte und liftet sich ohne Sentimentalitäten. Die Perlenkette klassizistischer Prachtvillen wurde radikal zerrissen, um Platz für die Ausgeburten brasilianischer Zukunftsleidenschaft zu schaffen - seelenlose Wolkenkratzer. Salvador hat sich zum historischen Niemandsland erklärt, Tabula rasa mit der portugiesischen Herrschaft und der Sklaverei, Schluss mit der Vergangenheit.

Im Viertel Pelourinho endet das graue Balkendiagramm der Hochhäuser. Die Altstadtschatztruhe von Salvador wäre wahrscheinlich längst geplündert, hätte nicht die Unesco 1985 ihren Welterbe-Mantel schützend darüber geworfen. Der Pelourinho (portugiesisch für Pranger) war einst Sklavenmarkt und Ort des Strafvollzugs, dann Künstlerhochburg und schließlich Sammelbecken für gottloses Gesindel - Drogensüchtige, Kriminelle, Prostituierte. In den Augen der Städter sind die alten Gemäuer nichts anderes als Steine im Fortschrittsgetriebe.

Mit Unesco-Unterstützung wurde der Pelourinho in den vergangenen Jahren zur Touristenattraktion hergerichtet. Finstere Crack-Gassen und obstsalatbunte Häuserreihen mit Bars, Restaurants und Läden mit Handwerkskunst liegen nun dicht beisammen. Der Geruch von Sandelholz, das die Händler zu Knödeln verpackt vor den Nasen der Passanten schwenken, mischt sich mit Uringestank: Öffentliche Toiletten sind eine Rarität. Ein runzliger Maler bietet Holzschnitte feil, interessiert sich für deren Absatz jedoch weniger als für die Herkunft der Touristen: "Alle sind da", weist er verzückt auf eine Treppe, auf der in diesem Moment Argentinier, Bulgaren, Norweger und Deutsche rasten.

Was treibt die Leute in Scharen hierher, scheint er sich zu wundern. In diese Stadt mit ihren Bausünden, dem vernachlässigten 45 Kilometer langen Sandstrand und einem Speckgürtel aus fast 700 Armenvierteln. Vielleicht das größte Barock-Ensemble Lateinamerikas? Die Kirche Sao Francisco ist ein Hammerschlag barocker Verschwendungssucht, eine Tonne Blattgoldrausch und feinste Holzschnitzereien - Sterne, Vögel, Pflanzenranken und Putten mit nachträglich keusch zurechtgestutzten Genitalien. Der Kreuzgang nebenan konterkariert das Machwerk der Maßlosigkeit. 37 Mosaike aus blau-weißen Azulejos mahnen die Schwächen des jüngsten Schöpfungswesens an - Sinnbilder zu Aberglaube, Habgier, Völlerei. Szenen aus dem "moralischen Theater des menschlichen Lebens", wie es in einem Infoblatt heißt.

In Praia do Forte hingegen gibt es Signale für Nachhaltigkeit. Nur unter strengen sozial- und umweltverträglichen Auflagen durfte in dem Naturschutzgebiet ein Resort Quartier beziehen. Spaßlosigkeit bedeutet das allerdings nicht. So kann der Gast wählen, ob er mit dem Speedboat übers Meer braust oder das Schildkrötenprojekt besucht und eines der Tiere mit einer Spende symbolisch adoptiert. Ob er die Natur auf dem Rio Imbassai mit dem Kanu durchstreift oder mit einem Quad knatternd durch den Regenwald heizt, dass die schlammigen Wasserlachen nur so spritzen und die Äffchen sich verstört hinter Bananenstauden ducken.

Pilar Aschenbach


Tipps für die Reise

Unterkunft: Das Tivoli Ecoresort Praia do Forte eignet sich für Urlauber, die Baden und Sightseeing kombinieren wollen (www.tivolihotels.com).
Ausflüge: Schildkrötenprojekt (www.projetotamar.org.br); Outdoor-Aktivitäten mit Bahia Adventure (www.bahiaadventure.com).
Essen: Das Restaurant Paraiso Tropical im Salvador-Stadtteil Cabula serviert sowohl gebirgige Fleischplatten als auch fantasievolle vegetarische Eintöpfe. Spezialität des Hauses sind die Caipirinha-Variationen (www.restauranteparaisotropical.com.br).