Chile

Rätselhafte Riesen

Die "Moai-Fabrik" Rano Raraku.

Mit ihren Steinskulpturen besitzt die Osterinsel ein Mysterium, das Touristen bis ans Ende der Welt lockt

Die Osterinsel hat nur zwei Sandstrände.

Touristenführer vor dem Krater des Rano Kau.

Ahu Tongariki, eine Parade mit 15 Moais.

Die Kalifornierin Joanna und ihre künstlerisch tätige Schwiegermutter in spe. Fotos: pa

Der Moai hat sein kantiges Kinn aus Lapilli-Tuff trotzig nach vorne geschoben und die schmalen Lippen zu einem Flunsch verzogen. Es scheint fast so, als hege er Groll gegen seine Schöpfer, die ihn unvollendet am Rande des Vulkans Rano Raraku zurückließen. Aus grob modellierten Augen glotzt der Steinriese dorthin, wo andere seiner Art majestätisch auf Plattformen thronen: zur Küste der Osterinsel, an der sich wuchtige Pazifikwellen brechen.

Die mysteriösen Moais sind der Grund, warum jährlich rund 60.000 Touristen bis an das Ende der Welt reisen. Rund 3.800 Kilometer von der chilenischen Küste und 4.200 Kilometer von Tahiti entfernt, ist die Osterinsel einer der entlegensten Flecken der Erde. Ein kleiner, 24 Kilometer langer Landfetzen mitten in den Fluten des Südostpazifiks. Karg, schroff, dreieckig, mit erloschenen Vulkanen an jeder Spitze. Fast menschenleer bis auf den Hauptort Hanga Roa mit 5.000 Einwohnern. Das nächste besiedelte Eiland: Pitcairn im Westen, 2.078 Kilometer.

Beim Anflug auf den kleinen Insel-Airport stehen Menschen winkend in den Wiesen, um die einzige Maschine des Tages zu begrüßen. Ankömmlinge werden mit Blumenkränzen geschmückt und Abreisende mit Muschelketten. Die ersten Bewohner kamen vermutlich mit Hochseekanus aus Polynesien - vor 1.500 Jahren, vielleicht aber auch viel später. Sie tauften ihre Entdeckung, dieses kleine Etwas im unendlichen Ozeanblau, auf den Namen Te Pito o Te Henua, Nabel der Welt. Die internationale Bezeichnung geht auf den holländischen Seefahrer Jacob Roggeveen zurück, der die Insel am Ostersonntag des Jahres 1722 sichtete. Heute nennen die Insulaner sich, ihre Sprache und ihre Heimat Rapa Nui.

Auch wenn sich um die bestürzende Geschichte der Osterinsel bis heute viele Rätsel ranken, so gilt als wahrscheinlich, dass alles paradiesisch begann. Unter der Herrschaft des ersten Königs Hotu Matua, der Nutzpflanzen und -tiere im Gepäck hatte, blühte eine Kultur ohne äußere Einflüsse auf. An den Küsten entstanden die Altäre, Ahu genannt, auf denen im Laufe der Jahrhunderte immer größere Moais Eindruck schinden sollten.

Knapp 400 Statuen wurden in dem Steinbruch des Rano Raraku stehen und liegen gelassen, der "Moai-Fabrik", wie Tour-Guide Joanna Faulkner sagt. Fast fertig oder noch im Rohbau mit dem Fels verbunden, sind die Figuren über den Hang versprengt. Köpfe ragen schief aus dem Boden, als ob eine wilde Schlacht mit Enthauptungen getobt hätte. In Wirklichkeit haben viele Exemplare auch Rümpfe, die unter der Erde verborgen sind.

Warum die Moais nicht abtransportiert wurden, ist Quell für mannigfaltige Spekulationen: Gingen die Bäume für den Bau von Holzschlitten aus, um die tonnenschweren Steinkolosse an den Ort ihrer Bestimmung zu schaffen, wie der norwegische Forscher Thor Heyerdahl mutmaßt? Die Einheimischen haben eine andere Erklärung: Sie glauben, die Moais sind gelaufen. "Mit Mana, der spirituellen Kraft", erklärt Joanna. Die blonde Kalifornierin kam vor zwei Jahren auf die Osterinsel, verliebte sich in dieselbe und in Tito, einen Einheimischen. Demnächst wollen die beiden heiraten.

Mehr als 1.000 Moais soll es auf der Osterinsel geben. Sie dienten einst der Ahnenverehrung, als Bindeglied zwischen Diesseits und Jenseits, aber auch als Symbol für Macht. Während die ersten Exemplare noch individuelle Züge aufweisen, darunter auch eine Handvoll mit weiblichen Merkmalen, wurden die späteren Skulpturen zusehends liebloser gestaltet und erinnern in ihrer Derbheit an Neandertaler. War unter den Clans ein blinder Wettstreit ausgebrochen: Wer hat den längsten Moai? Dienten die rötlich schimmernden Steinklötze, die manche Statuen auf dem Kopf tragen, dem bloßen Höhengewinn - oder symbolisierten sie einen Hut, Haare oder ein Superhirn?

Pollenfunde belegen, dass die Osterinsel einst bewaldet war. Heute prägen Grasweiten, einige klägliche Eukalyptushaine und vereinzelte Palmen die Landschaft. Wahrscheinlich ist, dass nicht eine Naturkatastrophe die Insel zum Ödland verkümmern ließ, sondern ein menschengemachtes Desaster: Überbevölkerung und Ressourcenverschwendung ohne den Gedanken an Morgen. Sägten die Rapa Nui im Eifer des Moai-Gefechts an den Ästen, auf denen sie saßen? Im 17. Jahrhundert brach jedenfalls die große Krise aus. Als James Cook 1774 die Osterinsel erreichte, fand er die Moai-Kultur im Untergang. Viele Skulpturen waren umgestürzt und zerstückelt, auch sollen sich die Menschen gegenseitig zerfleischt und verspeist haben.

Kurze Zeit später, 1860, dräute die nächste Katastrophe. Die Inselbewohner wurden als Sklaven nach Peru verschleppt. Weitere Übernahmen folgten: Aufgabe der eigenen Rituale durch christliche Missionare, 1888 die Annexion durch Chile, danach die Verpachtung an ein schottisches Unternehmen, das die Insel als Schaffarm betrieb und die Menschen hinter Zäunen in einem Areal im Südwesten einpferchte.

An diesem Zipfel befindet sich heute die einzige Inselortschaft Hanga Roa, ein beschauliches Zentrum mit bunten Häusern, Gärten und Souvenir-Shops voller Mini-Moais aus Holz und Stein. Am Hafen stromern eisschleckende Jungen herum, ansonsten ist nicht viel los. Auch wenn einige Kreuzfahrtrouten an der Osterinsel vorbeiführen, hält sich der Besucheransturm von der See in Grenzen. Es gibt kein Terminal für die großen Pötte, die Passagiere müssen in Booten übersetzen. Weil das Meer als stürmisch gilt, tun sie das eher selten.  Das Unterkunftsangebot auf Rapa Nui umfasst kleinere Hotels mit jeweils 30 bis 50 Zimmern und zahlreiche Privatunterkünfte. Die Einheimischen fürchten den Ausverkauf ihrer Insel, jedes neue Projekt wird sorgfältig geprüft. So war es auch mit der Luxus-Lodge Explora Rapa Nui, die 2007 als erste Hotelanlage außerhalb von Hanga Roa eröffnen durfte und auf Basis eines Pachtvertrags betrieben wird. "Letztendlich hat mich das Konzept überzeugt", sagt Grundstücksbesitzer Mike Rapu, ein braungebrannter Endvierziger im großblumigen Hawaii-Hemd. Aus den Einnahmen hat sich Rapu auf der Osterinsel ein kleines Imperium erschaffen, zu dem eine Brauerei, eine Tauchschule, eine Diskothek und Kartoffelanbau gehören.

Die Philosophie der chilenischen Hotelgruppe Explora sieht vor, die Gäste ins Land auszuführen. Auf der Osterinsel werden Moai-Plätze angesteuert, aber auch enge Höhlen erkundet und scharfkantige Lavabrockenfelder an den Steilküsten erwandert. Als hätte jemand tonnenweise Waschpulver in den Pazifik geschüttet, schäumt hier blütenweiße Gischt über schwarzes Gestein. Tatsächlich aber ist das Meer um die Osterinsel frei von Chemikalien wie kaum ein anderes. Die Luft riecht so rein, als wäre die Welt noch ganz schöpfungsfrisch.

Auf der Fahrt zum Vulkan Rano Kau blockieren Pferde die Straße. Die Tiere dürfen sich frei bewegen, anders als die Rapa Nui zu den Ghetto-Zeiten der Schafzucht. Etwa 6.000 Pferde gibt es auf der Insel, sie grasen in Kratern, dösen zwischen Moais und rubbeln ungeniert Hälse und Hintern an den Monumenten. Weiter oben am Vulkan klebt das Zeremoniendorf Orongo, eine Anhäufung akkurat rekonstruierter Steinstapel, unterhalb umspült der Pazifik drei Mini-Inseln, Brutplätze der Rußseeschwalbe.

Einst muss es an diesem Ort wie in der Cliff-Werbung zugegangen sein, in der ein Traumkörper in halsbrecherische Tiefen segelt. Jedes Jahr im Frühling stürzten sich junge Männer die Klippen hinunter, schwammen zum Inselchen Motu Nui, um ein Ei der Schwalben zu ergattern und es unversehrt zum Festland zu bringen. Der Stamm des Siegers erhielt für ein Jahr den "Vogelmann"-Titel und höchstes Ansehen. Doch auch ohne dieses mörderische Spektakel ist der Rano Kao von gewalttätiger Schönheit: ein 1,6 Kilometer langer Krater mit riesiger Süßwasserlagune und geheimnisvollen Steingravuren. "Wie ein gigantischer Hexenkessel", befand der Norweger Heyerdahl.

Der Moai am Rano Raraku schmollt und schweigt. Vielleicht drückt sich in der bockigen Miene auch die Stimmung seiner Baumeister aus, die um jeden Preis gewinnen wollten? Würde der Steinkopf in einem Augenblick übersprudelnder Mana-Energie plötzlich zu sprechen beginnen - er könnte gewiss viel Licht ins Dunkel bringen. Ob das gut wäre, ist eine andere Sache. Es sind die Ungereimtheiten, die der Insel ihren Zauber verleihen und der Fantasie Flügel.

Pilar Aschenbach

Reiseinfos

Flug: Im Winter startet die chilenische Airline LAN siebenmal pro Woche von Santiago de Chile auf die Osterinsel (täglich außer donnerstags, mittwochs zweimal täglich). Infos und Buchung unter www.lan.com.

Unterkunft: Seit vier Jahren ist die chilenische Hotelgruppe Explora mit einer Luxus-Lodge auf der Osterinsel vertreten (www.explora.com). Buchungen sind auch über Reiseveranstalter wie Art of Travel möglich. Der Münchner Anbieter ist auf hochwertige Individualreisen spezialisiert (www.artoftravel.de).

Auskunft: Weitere Infos gibt es bei Turismo Chile unter www.chile.travel.

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