Tunesien

„Die Leibhaftigkeit des Märchens“

Architektur im Spiel des Lichts und der Farben machen den Reiz des Örtchens Sidi Bou Said unweit von Tunis aus. Foto: Dieter Schütz/Pixelio.de

Sidi Bou Said: Der Bilderbuch-Ort ist so schön wie zu Zeiten der großen Maler

Steile kopfsteingepflasterte Gassen führen den Hang hinauf – vorbei an schneeweißen und wie Schachteln übereinander gestapelten Häuschen mit hellblauen Türen und Fensterläden und gefliesten Innenhöfen: Dorthin, wo vor exakt 106 Jahren die Maler August Macke, Paul Klee und Louis Moilliet gesessen, geträumt und vor allem aquarelliert haben. In ihren Skizzenblöcken hielten die Europäer den arabischen Alltag in Sidi Bou Said fest – all die orientalische Urtümlichkeit, die Farbenpracht, die Fremdheit hier vor den Toren der tunesischen Hauptstadt am Golf von Tunis.

„Die Leibhaftigkeit des Märchens!“ notierte Paul Klee damals in seinem Tagebuch. Jahre später sollte die Nordafrika-Fahrt der drei Maler als „Tunisreise„ in die Kunstgeschichte eingehen. Die in zwölf Apriltagen des Jahres 1914 entstandenen Arbeiten aus Sidi Bou Said, Tunis, Hammamet und Kairouan hängen heute in bedeutenden Museen, einige davon sind Millionen wert.

Seit Generationen hat Sidi Bou Said, heute Villenvorort von Tunis, Künstler angezogen. Wenn die Sonne unterging, saßen sie auf der von Bougainvillea umrankten Terrasse des „Café des Nattes„, rauchten Wasserpfeife, blickten über die schneeweißen Dächer des Ortes hinweg Richtung Mittelmeer. Sie hörten den Ruf des Muezzins der benachbarten Moschee – genau wie die Urlauber aus den Badehotels von Hammamet und Monastir heute, zu deren Ausflugsprogramm der maurische Bilderbuchort inzwischen gehört.

Sidi Bou Said ist Vorzeige-Tunesien vom Feinsten – damals wie heute. Vom Flughafen Tunis-Carthage ist es nur ein Katzensprung, eine Taxifahrt von zehn Minuten – und nebenbei ist dieser Abstecher nicht ohne Grund der Auftaktklassiker der Famtrips des Tunesischen Fremdenverkehrsamtes.Nicht einmal das Café scheint sich seit 1914 groß verändert zu haben. Nur ist es inzwischen Anziehungspunkt jener Tagesausflügler geworden, die auf den Spuren der „Tuni-Reise“ Sidi Bou Said entdecken. Eine Stunde gewähren ihnen ihre Reiseleiter auf den ganztägigen Tunis-Touren dafür, ehe der Bus weiter rollt Richtung Carthago, anschließend zum Bardo-Museum, danach zur Medina der Hauptstadt.

Am schönsten aber ist es in Sidi Bou Said nach Sonnenuntergang, wenn es leer geworden ist in den Gassen. Wenn die Tour-Busse wieder zurück in die Mittelmeer-Badeorte gefahren sind. Dann, wenn wieder alles so ist wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Wenn alle wieder Zeit zum Plausch haben: sei es beim Wasserpfeiferauchen im Café des Nattes oder ein paar Straßenecken weiter beim Tee im Café Sidi Chaabane mit einem wunderbaren Blick über den Golf von Tunis. „Wie durchdringend, wie berauschend“, kritzelte Klee in sein Tagebuch: „Ich und die Farbe sind eins. Sie hat mich. Für immer!“
Helge Sobik
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