Ägypten: Am 22. Oktober ist in Abu Simbel das Sonnenwunder zu bestaunen. Tausende Besucher kommen und verbringen schlaflose Stunden für wenige Augenblicke
Es ist frühmorgens, 3.10 Uhr und stockdunkel. Hunderte Menschen sind auf den Beinen, Deutsche, Amerikaner, Franzosen. Sie hocken auf mitgebrachten Kissen, liegen auf Decken oder Hotelhandtüchern. Es herrscht Open-Air-Konzert-Atmosphäre zu Füßen der vier kolossalen, 22 Meter hohen Ramses-Statuen von Abu Simbel im Süden Ägyptens. Doch nur die ersten Hundert, vielleicht Hundertfünfzig von rund 5.000 wartenden Menschen werden das Sonnenwunder in Echtzeit und hautnah erleben.
Für alle Nachkommenden ist die Zeit zu kurz, denn das Sonnenwunder dauert gerade einmal 20 Minuten. Das Schauspiel passiert nur zweimal im Jahr, jetzt am 22. Oktober und am 22. Februar.
Gott der Dunkelheit bleibt im Dunkeln
„Sonnenwunder“, erklärt Mohamed El Bialy, „bedeutet, dass das Sonnenlicht bis in das rund 65 Meter hinter dem Tempeleingang gelegene Heiligtum fällt und dort drei der vier Götter beleuchtet: von rechts gesehen den Sonnengott Re, Ramses, Reichsgott Amun und Ptah, der auch in diesen 20 Minuten stets im Dunkeln bleibt. Ptah, der Gott der Dunkelheit, benötigt schließlich niemals Licht.“ El Bialy ist Direktor der antiken Stätten von unter anderem Abu Simbel und Assuan. Ein paar Japaner haben sogar 5.000 Euro Bakschisch bezahlt, um in der Nacht vor dem Sonnenwunder im Tempel meditieren zu dürfen, berichtet der Direktor weiter.
Um 3.34 Uhr zieht eine Hundertschaft Polizei in Paradeuniform zum Tempel. Mit Seilen sperren die Polizisten die Mitte vor dem Tempeleingang ab, den Weg, den die Sonnenstrahlen bis ins Heiligste nehmen werden, wo sich Ramses als einer der bedeutendsten Götter zeigt. Bis man ihn im Sonnenlicht sieht, dauert es aber immer noch gut zwei Stunden.
„Der Tempel zeigt Ramses auf dem Weg vom Mensch zum Gott“, erklärt Wissenschaftler El Bialy. „Draußen ist er in vierfacher Form noch Mensch, begleitet von seiner Familie zu seinen Füßen. Im Heiligtum drinnen hat er sich dagegen schon in die Reihe der bedeutendsten Götter eingereiht, die man in der 19. Dynastie verehrte.“ Auch das Sonnenwunder sollte diese Vergöttlichung unterstreichen. Der Wissenschaftler bezweifelt jedoch, dass die Sonnenwundertage einhergehen mit Geburts- und Krönungstag von Ramses II. El Bialy vermutet saisonale Gründe: Sommeranfang und Sommerende.
Als fast alle dösen, erschallt kurz laute Headbanging-Musik als Wecker: Es dämmert schon, 5.45 Uhr, die Spannung steigt. Ein Dunstschleier blockiert die ersten Sonnenstrahlen. 5.56 Uhr: Erst jetzt dringen sie in das Innere des Tempels. „Yala! Yala!“, rufen die Polizisten. „Weiter! Weiter!“ und schieben die Leute in den Tempel wie eine Viehherde. So viele wie möglich sollen das Sonnenwunder erleben können.
Wer stehen bleibt, wird weiter geschubst. Yala – bis man vor den vier Göttern steht: Ptah im Dunkeln, die anderen drei angestrahlt vom orangefarbenen morgendlichen Sonnenlicht. In gebückter Haltung steht man kurz hier, damit ja kein Schatten auf die Figuren fällt, dann geht es yala weiter.
Trotz der Schubserei ist das Schauspiel faszinierend, sogar für die meisten, die das Sonnenwunder nur auf der Video-Leinwand verfolgen können. Und fröhlich wird es auch noch: durch das Sonnenfest, draußen auf dem Vorplatz. Die Derwisch-Tänzer drehen sich minutenlang und posieren mit den Touristen für Fotos. Es ist ein lockeres, ein fröhliches Fest, das der Sonne gewidmet ist.
Tempeltürsteher Awad Hassan, einer von elf Tempelwächtern, die sich im 24-Stunden-Schichtdienst abwechseln, zeigt seinen überdimensionalen Schlüssel. Es ist sein elftes Sonnenwunder. „Zweimal gab es nichts zu sehen“, sagt er nüchtern, „weil zu dichte Wolken da waren …“.

