China

Vorreiter im Perlflussdelta

Kanton boomt: In den Fußgängerzonen wird geshoppt, vor den historischen Bauten auf Shamian posiert. Fotos: fh

Kaum eine Region hat so von der Öffnung profitiert wie Kanton

Historische Gebäude, dichte Platanenalleen, hier und da eine Holzbank mit Schachspielern - auf der Insel Shamian zeigt sich Kanton (auch unter dem chinesischen Namen Guangzhou bekannt) von der malerischen Seite. Und makellos dazu! Denn für die Asian Games 2010 wurden die historischen Straßenzüge, in denen einst die britischen Händler residierten, aufwändig renoviert.

Mit ein bisschen Fantasie gleicht der Spaziergang durch den Süden der Stadt nun einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Wären nicht die vielen Brautpaare unterwegs, die sich gerne vor dem historischen Ambiente ablichten lassen, die Mode-Models und ihre Fotografen, die chinesischen Touristen, denen Shamian genauso exotisch erscheint wie uns.

Denn drumherum boomt die Stadt, wächst, scheinbar grenzenlos. Touristisch sei sie wenig sehenswert, heißt es daher oft im Westen. Ach was! Gerade weil in der Stadt Kanton alte Kolonialbauten und topmoderne Hochhäuser oft Wand an Wand lehnen, steht sie wie keine andere für die Zukunft des Landes, ein Ausblick auf Möglichkeiten, aber auch Nebenwirkungen einer derart rasanten Entwicklung.

Rund ein Sechstel aller Waren weltweit wird im Umland von Kanton, dem "Fabrikhof der Welt", hergestellt. Wie viele Menschen hier leben, weiß niemand ganz genau: Im Kantoner Stadtgebiet sind es drei Millionen, das gesamte Perlflussdelta beherbergt offiziell rund 50 Millionen Menschen. Vielleicht sind es auch 80 Millionen - zählt man die Heerscharen von Wanderarbeitern dazu.

Eine der vielen Nebenwirkungen dieser Entwicklung ist offensichtlich: Kanton ist vergleichsweise reich - und leistet sich ein gigantisches Nachtleben, mit Diskotheken, Clubs, seriösen und weniger seriösen Wellness-Salons en masse. Auch in den Fußgängerzonen, derer sich die Stadt gleich mehrere leistet, ist nahezu rund um die Uhr Kaufrausch angesagt. Viele der Waren, die im Perlflussdelta hergestellt werden, landen hier direkt auf dem Markt. Echte und fast echte Antiquitäten, modische Kleidung, Schuhe, Taschen, Lolex-Uhren mit Rechtschreibschwäche, Nippes und Dekoartikel.

Nahtlos geht die moderne Innenstadt in das Gassengewirr der südlichen Altstadt über, wo der Medizinmarkt wohliges Fürchten lehrt. Zwischen getrockneten Hirschgeweihen und Raubtiertatzen ahnt der Besucher: In China muss sich Moderne mit Tradition nicht beißen.

Manch einer der bäuerlichen Marketender hat dennoch eine schiere Zeitreise hinter sich: Hätte man ihnen vor dreißig Jahren prophezeit, sie würden noch zu Lebzeiten ihre Dörfer als den Wirtschaftsmotor China schlechthin erleben und ihr Ackerland als Industriefläche verkaufen - schallendes Gelächter wäre die Antwort gewesen.
Françoise Hauser