China

Von der Revolution verschont

Der Geburtstag der Meeresgöttin Tin Hau ist eines der buntesten Spektakel im Jahreslauf.

Hongkong ist ein wahres Refugium chinesischer Tempelkultur

Räucherspiralen en masse: Rund 600 Tempel gibt es in der südchinesischen Metropole. Fotos: Hong Kong Tourism Board

Zehn Uhr vormittags im Manmo-Tempel in der Hollywood Road. Vorsichtig packt der grobschlächtige Mann mit Gelfrisur eine Packung Räucherstäbchen aus, verbeugt sich vor dem Altar des Gottes Mo Tai und verharrt einen Moment still betend. Für anständige Menschen im besten Arbeitsalter eigentlich keine klassische Freizeit. Doch der Unbekannte mit den großen Tattoos hat Gleitzeit. Immer - so wie viele andere Besucher aus der Unterwelt.

Dass sie gerade hier landen hat einen einfachen Grund: Der Kriegsgott Mo Tai ist der Schutzgott der Kriminellen. Pikanterweise ist Mo Tai jedoch auch der Schutzpatron der Polizei, und so kann es passieren, dass die Kontrahenten ausnahmsweise unerkannt und friedlich nebeneinanderstehen und um Schutz voreinander bitten. Die Unterscheidung ist übrigens recht einfach: Je größer die Anzahl der sichtbaren Tattoos, desto eher handelt es sich um einen "Bösen".

Oft als Ost-West-Mischung angepriesen, ist Hongkong vor allem eines: Der wohl traditionellste Ort Chinas. Auf seine ganz eigene Weise, zwischen Hochhausschluchten und neben kilometerlangen Rolltreppen, unter Leuchtreklamen und neben Busbahnhöfen. Nirgendwo sonst in China sind so viele Gebäude nach den Regeln der Fengshui-Geomantik ausgerichtet. Was vortrefflich beweist, dass sich Tradition in China nicht mit Technik beißt.

Viel wichtiger sind jedoch politische Gründe: All die Kampagnen und politischen Bewegungen, die die Volksrepublikaner nach 1949 stramm auf sozialistischen Kurs bringen sollten, gingen an Hongkong spurlos vorüber. Vor allem aber blieb die ehemalige Kolonie von der Kulturrevolution Ende der 60er Jahre verschont: Während die Roten Garden in der Volksrepublik nahezu alle Tempel, Klöster und archäologischen Stätten in Schutt und Asche legten und jegliche religiöse Tradition getilgt werden sollte, blieben die Gotteshäuser und Schreine in Hongkong aktiv.

Heute gibt es in Hongkong rund 600 Tempel, davon allein rund 70 Stätten, die der Göttin der Meere und der Fischer Tin Hau (in China meist als Mazu bekannt) gewidmet sind - die kleinen "unbemannten" Andachtsstätten gar nicht erst mitgezählt. Tin Hau wird zwar überall an der südchinesischen Küste verehrt, doch ihr Geburtstag wird nirgends so opulent gefeiert wie hier. Das Fest findet am 23. Tag des dritten Monats im chinesischen Mondkalender statt, und damit an wechselnden Terminen im April und Mai.

Ebenfalls lohnenswert ist ein Besuch der Tin-Hau-Tempel, zum Beispiel in Causeway Bay, am 23. Oktober, wenn sich ihre Verwandlung in eine Göttin jährt. Halbseidene Kontakte sind hier weniger zu befürchten: Der andächtige Nebenmann mit Tattoo könnte dann auch einfach ein Fischer sein.
Francoise Hauser