China

Chinesische Zeitreise

Wie vor 200 Jahren: Nur wenige Touristen besuchen die Kleinstadt.

Laitan ist ein Ausflug in die Vergangenheit – nur 100 Kilometer von Chongqing

Chinas zweitgrößter Buddha ist in einem Höhlentempel am Qujiang-Fluss zu finden. Fotos: fh

Keine anderthalb Autostunden sind es von der chinesischen Millionenstadt Chongqing nach Laitan – und gefühlte zweihundert Jahre in die Vergangenheit. Schon der erste Blick ist eines Historiendramas würdig: Auf einer Anhöhe am Qujiang-Fluss kauert die Kleinstadt an den Felsen. Keines der rund 400 Häuser ist höher als zwei Stockwerke, kein Stadtplaner oder Architekt hat hier die letzten hundert Jahre Hand angelegt.

Irgendwann in der letzten Dynastie scheint in Laitan die Zeit angehalten worden zu sein: Eng stehen die dunklen Holzhäuser beieinander, über das holprige Kopfsteinpflaster rattern Händler und Handwerker mit handgezogenen Karren. Nur die eine oder andere Glühbirne verrät, dass das 19. Jahrhundert schon ein wenig zurückliegt.

Kollektiv scheint man in Laitan dem Majiang-Spiel verfallen: In jedem zweiten Haus der Hauptstraße klappern die Spieler konzentriert mit den Spielsteinen hinter den aufgeklappten Fassaden, während Trauben von Zuschauern die Partie verfolgen.

Hier könnte man glauben, in China habe nie eine Revolution stattgefunden. Bis heute steht die mächtige, sieben Meter hohe Stadtmauer, welche die Bewohner Ende des 19. Jahrhunderts vor den zahllosen Bauernrebellionen schützen sollte. Nur vier schmale Tore in der Mauer führen nach Laitan – Aufständische hatten dort nie eine Chance. Autos übrigens auch nicht, was der Stadt eine wunderbare Aura von Stille verleiht.

Touristen sind in Laitan dennoch eher selten: Die wenigsten Reiseführer erwähnen die Kleinstadt – vielleicht, weil es kaum Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Vor allem aber passt Laitan nicht wirklich in das Bild, dass sich das moderne China selbst verordnet.Anstelle von Disney-tauglichen Restaurierungen wartet hier die Patina einer lebendigen Stadt. Sauber geleckt ist sie nicht. Auch ihre wichtigste, wahrlich beeindruckende Sehenswürdigkeit findet der Fremde oft nur durch Zufall – oder dank chinesischer Sprachkenntnisse. „Erfo – Zweiter Buddha“ hat eine hastige Hand in roter Farbe an die Mauer eines leer stehenden Grundstücks gepinselt, drunter ein roter Pfeil.

Über verwitterte Stufen geht es den Steilhang zum Qujiang hinunter, ein Weg der schon wegen der Aussicht über das Flusstal lohnt. Erst nach einigen Minuten erklärt sich der lapidare Name: In Laitan steht der zweitgrößte Buddha Chinas. Nur der Buddha von Leshan kann ihn noch übertreffen. Im Halbdunkel des Höhlentempels, vor Hunderten flackernder Kerzen, ist die zwölfeinhalb Meter große Felsenfigur aus dem zwölften Jahrhundert nur unklar zu erkennen.

Und doch schlägt die Szenerie am „Erfo“ sämtliche etablierte Sehenswürdigkeiten der Region um Längen. Links bringt ein abgerissener Bauer mit Zigarette im Mundwinkel seinem kleinen Sohn bei, wie man sich auf den zerschlissenen Bodenkissen korrekt vor Buddha verbeugt, rechts schleppt eine Großfamilie gleich eine ganze Sackkarrenladung armdicker Räucherstäbchen an. Hier geht es ganz offensichtlich um eine wirklich wichtige Bitte.

Auch die schiere Fülle von Felsenschnitzereien ist kaum zu überblicken. Rund 1.700 Figuren sollen es sein, viele von ihnen in weiteren kleinen Grotten versteckt und nur für Sekunden im Licht eines Feuerzeugs zu erkennen.

All dies wäre sicher mehr als einen Tag wert. Trotz der Atmosphäre und Fülle an Sehenswürdigkeiten entdecken die wenigen westlichen Besucher Laitan jedoch nur als Tagesausflug ab Chongqing. Aber auch das hat seinen Charme: Besser lassen sich die chinesischen Extreme zwischen Megacity und Dorfleben nicht erfahren.
Françoise Hauser
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