Türkei

Istanbul: Schöner Schlund

Istanbul zieht sich weit am Bosporus entlang – hier der Stadtteil Kuzguncuk.

Der Bosporus ist eine der meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt

Blick von der Yoros-Festung über den Bosporus ins Schwarze Meer. Fotos: cd

Wasser hat keine Balken, und doch kann es eine Brücke bilden. Der Bosporus trennt und verbindet zwei Kontinente. Ohne den Bosporus wäre Istanbul irgendeine staubige orientalische Stadt. Erst durch die Lage an der mächtigen Wasserstraße erlangte das einstige Konstantinopel Bedeutung.

Noch heute spiegelt sich die Stadt eitel in den Wellen. Der Bosporus ist das Fluidum der Metropole. Im Sommer genießt man die Brise am Wasser. Und wer immer in Istanbul etwas darzustellen hatte, baute ans Wasser. Doch der Bosporus ist mehr als Istanbul allein.

Rund 30 Kilometer ist die Wasserstraße lang, zwischen 700 Metern und 2,5 Kilometern breit. An der engsten Stelle wachen auf europäischer wie auf anatolischer Seite stolze Burgen am Ufer. Das Wort Bosporus stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Rinderfurt“. Doch bei einer Tiefe von 36 bis 124 Metern sollte hier niemand seine Kühe hindurchtreiben wollen.

Die Türken nennen das Wasser treffender Boðaz, also „Schlund“, was zu Recht geheimnisvoll klingt. Zwei gegenläufige Strömungen fließen durch die Wasserstraße. Eine starke Oberflächenströmung vom Schwarzen Meer zum Marmarameer, das seinerseits als Teil des viel salzhaltigeren Mittelmeers in der Tiefe Richtung Schwarzes Meer fließt.

Doch die Sache ist noch verzwickter: Nachmittags gewinnt die Oberströmung an Fahrt, bei Südwestwind drückt das Wasser von der Ägäis zum Schwarzen Meer. Kein Wunder, dass die Istanbuler in ihrem tückischen Schlund nicht schwimmen gehen mögen. Die Straßen von Istanbul sind immer verstopft. Nur auf dem Bosporus gilt „freie Fahrt“, denn er ist breit genug für alles, was einen Kiel hat, vom Fischerboot bis zum Kreuzfahrtriesen. 5.500 Schiffe ziehen täglich durch den interkontinentalen Schlund. Alle paar Minuten kommt ein richtig großer Pott vorbei.

Die schönste Annäherung an den Bosporus wie an die Stadt besteht darin, mit den Istanbuler Fähren für wenig Geld von einem Kontinent zum anderen zu schaukeln, ein Glas Tee an Bord zu trinken, die Passagiere zu beobachten, den Möwen beim Segeln zuzusehen und die Hektik der Millionenstadt zu vergessen. Oder man macht eine so genannte „Bosporus-Kreuzfahrt“, schippert ein oder zwei Stunden unter den Brücken hindurch und blickt auf Moscheen, Paläste und historische Holzvillen am Ufer, für die heute Vermögen bezahlt werden.

Man kann aber auch mit öffentlichen Bussen an beiden Ufern Richtung Schwarzmeerküste fahren, in kleinen Restaurants am Wasser Fisch und Raki bestellen und den Kormoranen beim Sonnenbaden und Tauchen zusehen. Oder den Fischern beim Anladen ihres Fangs. Auf europäischer Seite wird es spätestens ab Yeniköy ländlich-beschaulich, an den asiatischen Gestaden schon in Kuzguncuk, wo Istanbul noch wie ein Dorf wirkt.

Der Bosporus ist zu jeder Tageszeit eine belebte Bühne. Wasser und Wellen, Boote, Fähren und Tanker muten wie eine bewegte Installation an. Oder wie Orhan Pamuk meint: „Solange man noch an den Bosporus kann, ist das Leben doch gar nicht so schlecht.“
Claudia Diemar
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