Estland

Tor zum Norden

Altstadt Tallinn Panorama Kirche Stadtmauer

Die letzten Sonnenstrahlen
durchbrechen die Dämmerung über
Tallins Altstadt. Foto: iStockphoto/Ryhor Bruyeu

In Tallinn treffen Unesco-Erbe, Mittelalter und ­Hanse-Charme auf eine moderne touristische Infrastruktur

Fotografiska: renommiertes Museum für moderne Fotografie auf dem Kreativcampus Telliskivi. Foto: AlexKane

„Terviseks“, Estnisch für Prost, ruft der Stadtwächter, gekleidet in Lederuniform samt Lederhut und Kinnbinde, und hebt einen kleinen Klopfer an seine Lippen. In einem Zug leert er das Fläschlein Vana Tallinn, ein sanfter Likör auf Rum-Basis, aromatisiert mit Gewürzen und Zitrusfrüchten. Es ist ein früher Vormittag im April, eine kühle Brise weht um den Tallinner Domberg.

Der Herr in Leder ist ein kostümierter City-Guide und führt eine Gruppe deutscher Gäste durch die Hauptstadt Estlands. Zur Zeit der Figur, die er da verkörpert, gab es wohl schon gewürzte Spirituosen gegen das frische Klima. Die Stadt hieß seinerzeit jedoch noch Reval. Als solche war sie noch bis ins 20. Jahrhundert bekannt, die Kreuzritter des Deutschordens nannten sie so, als sie dort siedelten, auch als Mitglied der Hanse trug die Stadt diesen Namen.

Tallinn – die „Dänenstadt“

Hier oben auf dem Domberg, dem Toompea, ­beginnt ihre Geschichte. Wie so oft stand am Anfang ein einfacher Handelsplatz und eine provisorische Festung. Das war im 11. Jahrhundert. Lange autark blieb diese frühe Wiege nicht, der dänische König nahm den Hügel, der sich über dem finnischen Meerbusen erhebt, vor rund 
800 Jahren ein und gab ihm den Namen Tallinn, die „Dänenstadt“.

Von da an entfaltet sich eine vielbewegte ­Geschichte, die bis heute nahezu perfekt präserviert ist. Heute lebt hier eine fast bis ins Letzte durch-digitalisierte Gesellschaft in einer der mit Hinblick auf Nachhaltigkeit grünsten Städte, womöglich weltweit. 99 Prozent aller Behördenkontakte finden online statt. Der ÖPNV ist ­kostenfrei. Das Land ist die Nummer eins für die Start-up-Branche in Europa. Das hält die kleine Hauptstadt jung.

Fähren nach Helsinki und Stockholm

Fähranbieter verbinden die Nord-Metropolen Helsinki und Stockholm im Linienbetrieb mit Tallinn. Allzu lange haftete Estland das Klischee von vergangenem Ostblock-Charme an. Die Sowjet-Diktatur hat Narben hinterlassen, das ist sicher. Im Zweiten Weltkrieg schusterte ein ­geheimer Hitler-Stalin-Pakt Estland der Sowjetunion zu. Esten wurden nach Sibirien und Nordrussland deportiert. Deutschbaltische Bürger, von denen noch aus der Hanse-Zeit viele hier lebten, wurde von Hitler zurück ins Reich zwangsumgesiedelt.

Erst mit Fall des Eisernen Vorhangs erringt das Land seine Freiheit zurück. Wer UdSSR-Kitsch sucht, findet diesen hier. Zum Beispiel das einstige Interhotel Viru, das noch heute nah der Altstadt Gäste beherbergt. Mit Eröffnung in den Achtzigern diente es als Domizil, vornehmlich für Gäste aus dem nicht-sozialistischen Ausland, und war mithin bis unters Dach vom KGB verwanzt. Hier und an manchen anderen Orten und Museen kann man auch auf diesem Zweig der Geschichte wandeln.

Breites touristisches Angebot

Das ist aber nur ein Bruchteil des touristischen Angebots im heutigen Tallinn. Beeindruckende Hanse-Häuser schmiegen sich an meister­hafte Architektur aus dem Hochmittelalter, fast alles ist im Original erhalten.

In der 1997 von 
der Unesco als Weltkulturerbe gewürdigten Altstadt finden sich neben charmanten Boutiquehotels – darunter das neue Vier-Sterne-Haus Nunne mit 74 Gästezimmern, Fluren, die teil­weise die historische Stadtmauer integrieren, und einem vorzüglichen Restaurant – noch die älteste betriebene Apotheke Europas, die seit 1422 besteht und auf einen spannenden Ausflug in die Geschichte der Pharmazie einlädt.

Tipps für Erkundungen

  • Im Norden der Stadt schlägt das kreative Herz: Im Viertel Telliskivi auf einem ehemaligen ­Industriegebiet gibt es hippe Cafés, Galerien, Designläden, Destillerien und Handwerk.
  • Der Tallinn TV Tower bietet auf 314 Metern Höhe einen spektakulären Panorama-Blick, bei gutem Wetter reichen die Augen bis nach Finnland.
  • Sehr hip ist das Rotermann Quarter nah dem Hafen, wo einstige Fabriken geschickt zu modernen Wohnhäusern verjüngt wurden. Der Übergang von Alt zu Neu ist hier geradezu nahtlos. 

Tallinn für Genießer

Auch Kulinarik-Fans werden in Tallinn fündig. Deftig geht es in der traditionellen Cuisine zu, wie sie beispielsweise im Mittelalter-Restaurant Olde Hansa trefflich inszeniert wird. Hier arbeitet man ohne Strom und nur mit Zutaten, die sich historisch verbürgen lassen; auch die Speisesäle erhellt nur das Licht von Kerzen. Grobes Roggenbrot, Fisch, Blutwurst oder Eintöpfe mit Sauerkraut, Gerstengrütze und Schweinefleisch stehen auf der Karte.

Daneben hat sich eine Szene von Jung-Köchen etabliert, auf die auch schon der Guide Michelin aufmerksam geworden ist, und die mit regionalen Zutaten und modernen Küchen-Techniken experimentieren. Außerdem lohnen Besuche von Markthallen und Street-Food-Märkten.

Museen bieten Einblick ins Leben der Esten

Einen Einblick in die Seefahrertradition gibt das in einem Wasserflugzeug-Hangar untergebrachte maritime Museum Seaplane Harbour. Wie das Leben der Esten ab dem späten 17. Jahrhundert aussah, erfährt man in einem Freilicht- und Mitmach-Museum.

Strohgedeckte Bauernhäuser, Wind- und Wassermühlen, eine Kirche oder ein Schulhaus aus verschiedenen Regionen des Landes wurden hierher gebracht und sorgsam rekonstruiert. Für Gruppen werden verschiedene unterhaltsame Workshops angeboten.

Felix Hormel