Frankreich

Frankreich: Das fragile Blau

Nevers gilt als "französische Hauptstadt der Fayence".

Nevers gilt als "französische Hauptstadt der Fayence". Foto: rh

Burgunds drittgrößte Stadt ist berühmt für ihre Fayencen

„Folgen Sie einfach immer der blauen Linie im Straßenpflaster.“ Die junge Dame vom Tourismusamt im Palais Ducal deutet durch die transparente Fassadenwand ihres Büros hinaus auf den Bürgersteig. Tatsächlich teilt dort eine schmale, aquamarinfarbene Gerade die Gehwegplatten.

Es ist das Blau des Nièvre, jenes Flusses, der der heute drittgrößten Stadt des Burgund ihren Namen gab. Und das Blau der Fayence, die dank Ludovico de Gonzaga, dem Sohn Friedrichs II., Herzog von Mantua, an ihren Ufern zur Blüte gelangte. Der Italiener übernahm die Regentschaft des Herzogtums Nevers im Jahre 1565. Bald darauf siedelte er die ersten Kunsthandwerker aus seiner Heimat am Zusammenfluss von Loire und Nièvre an: Glasbläser, Emailleure, vor allem aber Keramiker aus d'Albissola.

Das Nivernais bot (und bietet) beste Voraussetzungen für die Erzeugung keramischer Waren: Die Erde weist reiche Ton- und Mergelvorkommen auf, das Holz zum Befeuern der Brennöfen liefern die Wälder des Morvan. Und auf der Loire sowie über den 1642 eröffneten Canal de Briare ließen sich die fragilen Fayencen problemlos verschiffen.

Rasch wuchs sich Nevers aus zur „französischen Hauptstadt der Fayence“. Am Vorabend der Revolution gab es in ihren Mauern zwölf Keramikmanufakturen. Erhalten blieb von ihnen nur eine. Sie trägt den Namen „Bout du Monde“ – Ende der Welt. Als Namenszug steht freilich „Montagnon“ über dem Portal, denn ein gewisser Antoine Montagnon kaufte die bereits 1648 gegründete Manufaktur. Seine Nachfahren leiten sie bis heute. Im hinteren der beiden Montagnon-Schauräume ist ein kleines Fayence-Museum mit Zier- und Gebrauchsstücken des 16. bis 19. Jahrhunderts eingerichtet. Die größte Sammlung Nivernaischer Fayencen birgt das Musée Frédéric Blandin in der ehemaligen Abtei Notre-Dame und im Privatpalais Hôtel de Vertpré.

Zwischen den duftenden Rosenhecken und weißen Kieswegen im Garten des Musée Blandin war mir meine fayenceblaue Leitlinie kurzfristig aus den Augen geraten. Erst kurz vor der Pont du Loire, wo schon im Mittelalter die von Vézelay nach Santiago de Compostela wandernden Pilger auf einem Steg den Fluss überquerten, entdecke ich wieder einen aquamarinfarbenen Hinweispfeil. Er leitet zur Kathedrale Saint-Cyr-et-Sainte-Juliette. Vom Glockenturm bietet sich ein wunderbarer Rundblick über Nevers. Eng kuschelt sich die Altstadt um den Kathedralensockel, mit schmalen, zum Teil steil zum Fluss hin abfallenden Gassen, die bezeichnenderweise dann auch Namen tragen wie Rue du Casse Cou, Halsbrecher-Straße.

Jenseits der verkehrsreichen Avenue Charles de Gaulle, an deren Rand sich zwei prächtige Keramikfassaden in üppigem Jugendstil finden, öffnet sich der Parc Roger Salengro. An seiner nordwestlichen Ecke schließt das Areal des Klosters Sankt Gildard an. In ihm steht eine weitere Attraktion von Nevers: der Reliquien-Schrein der Heiligen Bernadette. Eine halbe Million Gläubige pro Jahr pilgern zu den Gebeinen der jungen Ordensfrau, die im Sommer 1866 von Lourdes aus nach Saint-Gildard ins Mutterhaus der Schwestern der Nächstenliebe kam.

Selten indes „verirrt“ sich einer der Glaubenstouristen bis zur Place Carnot mit ihren Cafés und Bistros. Geschweige denn ins Viertel der alten Fayencerien oder gar bis zum Klosterareal Sainte-Etienne/Saint Martin mit romanischer Kirche und Herrenhäusern im Stil des Klassizismus und Barock. Auch das winzige Café zwischen Bahnhof und Porte du Croux kennen Bernadette-Pilger wohl kaum. Auf der Terrasse trinke ich meinen Abschiedswein, einen Pouilly. Die Pouilly-Trauben wachsen unweit von Nevers an den Hängen der Loire, dort, wo der Fluss die Grenze des Burgund bildet.

Rita Henss