Russland

Russland: Die Magie der Stille

Valaam im Ladoga-See ist eine arme, aber schöne Insel.

Valaam im Ladoga-See ist eine arme, aber schöne Insel. Foto: hr

Wer Valaam im Ladoga-See besucht, streift die russische Seele

„Das haut den stärksten Elch um“, sagt Arkadi, lacht und schenkt nach. Jeden Tag steht der freundliche Mann mit der Tarnhose und der dicken Brille in seiner Holzhütte am Schiffsanleger und verkauft selbstgemachten Kwas, eine Art alkoholarmes Bier aus Brotteig. Das säuerlich schmeckende Gebräu gilt – neben dem Wodka – als Nationalgetränk der Russen. Sein Rezept verrät Arkadi nicht. Nur soviel: Am Alkohol hat er nicht gespart.

Gegenüber von Arkadis Bude steht ein halbes Dutzend Männer um einen Kessel mit dampfender Suppe. Ein paar Meter weiter preist ein Großmütterchen in einem alten Wohnwagen geräucherten Fisch an. Auf Valaam ist die Zeit stehen geblieben.

Valaam liegt in Karelien, im Norden des Ladoga – dem mit rund 18.000 Quadratkilometer größten Süßwassersee Europas. Bis zur finnischen Grenze ist es nicht weit. Die zerklüftete Klosterinsel ist nur per Schiff erreichbar. Auf dem Weg von St. Petersburg nach Moskau durchqueren alle Kreuzfahrtschiffe den Ladoga. Einige, zum Beispiel die Prinzessin Annabella von Dertour oder die Wolga Dream von Phoenix, machen auf Valaam Halt.

Damals wie heute ist die Insel ein Zentrum der russisch-orthodoxen Kirche. Bereits im ersten Jahrhundert soll ein christlicher Missionar hier ein Steinkreuz errichtet haben. Das große Kloster mit seiner blau-weißen Kathedrale wurde im 18. Jahrhundert erbaut. Die meisten anderen Gebäude stammen aus dem 19. Jahrhundert.

Lange gehörte Valaam zu Finnland. Der Zweite Weltkrieg brachte dann eine harte Zäsur: Nach dem finnisch-russischen Krieg fiel Valaam im Jahr 1940 an die Sowjetunion. Aus Furcht vor Stalin und seinen Schergen ergriffen die Mönche die Flucht. Die Sowjets machten aus dem Kloster ein Heim für Invaliden. Erst 1989, nach der Perestroika, kamen die Geistlichen zurück. Seitdem richten sie das weitläufige Anwesen in mühevoller Kleinarbeit wieder her.

Wer Valaam besucht, trifft auf weitgehend unberührte Natur. Mehr als 200 Vogelarten sind hier heimisch. Von den gerade einmal 500 Einwohnern sind 150 Mönche. Schiffe aus St. Petersburg bringen ab und zu Touristen, die meisten sind Russen. Autos gibt es kaum, richtige Straßen braucht kein Mensch.

Stattdessen bedecken hügelige Wanderwege und Trampelpfade die Insel.
Wie fast überall in Russland begegnet man allerdings auch Armut und Elend: Natascha mit dem roten Kopftuch ist 84, sie wohnt seit vierzig Jahren gegenüber vom Klosterhof in einem dürftigen Holzverschlag ohne fließendes Wasser. Sie kann nur noch an Krücken gehen. Für die 50 Meter vom Feldweg zu ihrer Bretterbehausung braucht sie eine Viertelstunde. Doch verbittert ist Natascha nicht. Sie freut sich, dass sie jemanden zum Reden hat. Und lächelt.
Valaam kann man an nur einem Tag zu Fuß erkunden. Wer die Augen öffnet, entdeckt viel mehr als eine stille Insel: Er streift die russische Seele.
Heiko Reuter
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