Estland

Tallinn: Multikulti an der Ostsee

Kaum vom Weltkrieg mitgenommen: die Altstadt von Tallinn. Foto: pj

Wie die Kulturhauptstadt 2011 mit Top-Restaurants und als Drehkreuz punktet

Die Hauptstadt des Euro-Neulings Estland richtet passenderweise das Kulturhauptstadtjahr 2011 aus. Schon Ende 2010 konnte die Stadt das volle Programm mit allen Events und Veranstaltungen vorlegen – eine planerische Leistung, bei der andere Kulturjahr-Kandidaten nicht immer glänzten. Der unter den eigenen Bürgern veranstaltete „Träumt Euch was“-Ideenwettbewerb lieferte zuvor zahlreiche kreative, vor allem jedoch bezahlbare Vorschläge.

Viele der insgesamt 251 realisierten Projekte tragen dem maritimen Aspekt Rechnung, dem wichtigsten Leitmotiv. Außerdem werden monumentale Chöre zusammenkommen, ein traditioneller Bestandteil des estnischen Kulturerbes; beim größten Event dieser Art singen über 30.000 Mitwirkende. Gerüchte über angebliche Probleme bei Großprojekten zerstreuten sich schnell. Die „Kulturmeile“ an der neuen Seepromenade, der programmatisch zentralen und als „Hinwendung zum Meer“ propagierten Umgestaltung des unter den Sowjets gesperrten Küstenbereichs, wird planmäßig fertig. Nur wenige kleinere Vorhaben wie der „Kulturkessel“ wurden vorläufig auf Eis gelegt.

Im Mittelpunkt des Themas „Geschichten vom Meer“ steht der Umbau eines zaristischen Flugzeughangars zum futuristischen „Meeres- museum“. Als Glücksfall für die nur mit einem kleinen Budget ausgestatteten Organisatoren erwies sich der Umstand, dass Tallinn 1980 die olympische Segelregatta ausgetragen hatte; damals waren viele der historischen Häuser in der schönen, unzerstörten Altstadt restauriert worden. Die Kosten für das Lifting Tallinns hielten sich deshalb in Grenzen.

Der Weg nach Europa nach Jahrzehnten der Isolation und Fremdbestimmung führt für Estland direkt über das Wasser der Ostsee. In Finnland liegt auch die zweite Kulturhauptstadt 2011, Turku. Mit den Finnen fühlen sich die Esten sprachlich und kulturell eng verbunden; per Fähre ist der Trip dorthin keine Weltreise. Auf dem Festland befindet sich die Stadt in idealer Lage für Ausflüge in die umliegende baltische und russische Region wie nach Riga in Lettland oder nach St. Petersburg.

Da die Küche Estlands in deutschen, schwedischen und russischen Traditionen wurzelt, bietet sie eine multikulturelle Speisenkarte mit eigenem Flair. Sieben der zehn besten Restaurants des Landes liegen in Tallinn. In der Stadt dürfte auch die sonst nur im kurzen nordischen Sommer benötigte Bettenkapazität der mehr als 70 Hotels in dieser Saison voll ausgelastet sein.

Bei der Rückwendung zum Meer diente Barcelonas geglückte Renaissance als Blaupause. Die katalonische Metropole putzte anlässlich der Olympischen Sommerspiele von 1992 ihre heruntergekommene Seeseite gründlich heraus. Es gibt für die Kulturhauptstadt Tallinn nach 2011 zwar noch viel zu tun, um langfristig mit dem iberischen Vorbild gleichzuziehen, aber ein Anfang ist gemacht. Davon soll sich der Rest Europas in der diesjährigen Kulturhauptstadt bei Spiel und Gesang, Kunst und nicht zuletzt den vielfältigen kulinarischen Genüssen überzeugen können.
Peter Jaitner