Italien

Nachbar in Purpur

In Venedig stehen die Häuser dicht an dicht – seinen Nachbarn kommt man da zwangsläufig nahe.

Als Venezianer auf Zeit den Alltag in der Lagunenstadt erleben

Wer Quartier in Venedig bezieht, hat gute Chancen, den Markusplatz auch mal ohne Händler zu erleben. Fotos: hs

Der Nachbar auf der anderen Seite der schmalen Calle di Canonica trägt Purpur. Morgens um kurz vor sechs singt er Kirchenlieder - allein, ohne Orgelbegleitung und ein bisschen schief. Sein Zimmerfenster steht auf Kipp, wenn er den Tag beginnt. Später, wenn er am Schreibtisch sitzt, hört man das Schnarren eines alten Nadeldruckers aus der Kirchenkanzlei. In den Räumen mit den hohen Decken und den vergoldeten Stuckelementen wohnt der Kardinal von Venedig. Schaut Seine Eminenz über die Gasse hinweg, blickt er durch die geöffneten Fensterläden in eine Ferienwohnung im dritten Stock des gegenüberliegenden Patrizierhauses.

Bis vor Kurzem war dort eine Familie zu Hause, die nun aufs Festland umgezogen ist und Teilzeit-Venezianern Platz gemacht hat. Vor 30 Jahren zählte das von Kanälen durchzogene historische Zentrum von Venedig 176.000 Einwohner, heute sind es weniger als 70.000 - viel frei gewordener Raum für Fremde, die sich einen Urlaub lang wie Venezianer fühlen, in den historischen Prachtbauten mit Blick auf Markusplatz oder Canale Grande residieren oder sich in kleine Handwerkerhäuschen des Cannaregio-Viertels einmieten wollen: den Zauber der Lagunenstadt abseits vom Hotelrummel erleben, Palazzo-Ferien mitten in einem Museum machen, das auf Abermillionen Holzpfählen ruht und Venedig heißt. Selbst Marktgrößen wie Novasol, Interhome und Inter Chalet haben derlei Quartiere inzwischen im Programm.

Von den Restaurants unten in der Gasse zieht mittags der Geruch von gebratenem Fisch und frischer Pasta zur privaten Dachterrasse der Ferienwohnung herauf und entfacht den eigenen Hunger auf all das, was nun in der eigenen Küche der Wohnung zurechtgezaubert und anschließend mit kühlem Pinot Grigio aufgetafelt wird - alles frisch am Morgen auf dem Markt neben der Rialto-Brücke eingekauft, wo die Venezianer für den Alltag shoppen.

Applaus schallt später vom Markusplatz herüber Richtung Dachterrasse: Beifall für die Kammer-Ensembles auf den kleinen Baldachin-Bühnen der Cafés Quadri und Florian, für getragene Streicherklänge, Klarinetten-Soli und furiose Piano-Passagen. Nachbarn sind nur selten zu sehen, und anfangs wirkt es, als gäbe es gar keine: nur geschlossene Fensterläden ringsum. Abends aber öffnen sich plötzlich die ersten Läden. Gesichter tauchen auf. Durchzug über den Dächern Venedigs. Innenhöfe und Terrassen beleben sich für kurze Zeit.

Schön ist es, in einer fremden Stadt nach Hause zu kommen, nicht erst zu einer Rezeption zu laufen, sondern den Schlüssel in der Haustür zu drehen und in der "eigenen" Wohnung zu verschwinden, sich selbst den "Bellini"-Cocktail aus zwei Drittel Prosecco und einem Drittel Pfirsichsaft zu mixen.

Für die Stunden der Nacht gehört Venedig wieder den Venezianern. Die Tagesbesucher sind verschwunden. Teilen müssen sie nur mit denen, die in den Innenstadthotels bleiben - und mit jenen, die sich Ferienwohnungen in den Palazzi gemietet haben. Um Mitternacht läuten die Glocken der Markuskirche, als verkündeten sie die Rückeroberung des Zentrums durch die Einheimischen. Im Arbeitszimmer des Kardinals geht kurz das Licht an. Morgens um sieben läuten sie wieder und kündigen die Freigabe der Altstadt zum erneuten Überfall durch die Tagesbesucher an.

Die Fensterläden der Ferienwohnung in der Calle di Canonica sind noch geschlossen, aber der Kardinal gegenüber bleibt Frühaufsteher. "Ave Maria" hat er heute bereits gesungen, irgendwann kurz vor sechs. Und geräuspert hat er sich zwischendrin.
Helge Sobik
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