Griechenland

Ein göttliches Vergnügen

Imposant: der Poseidon-Tempel am Kap Sounion. Foto: jm

Attika ist Griechenland im Kompaktformat

Die Schwester des Helios kommt jeden Morgen in ihrem von Pferden gezogenen Wagen aus der Tiefe des Meeres empor und fährt über den Himmel. Die Sterne fliehen vor ihr, denn Eos ist die Göttin der Morgenröte ... 

Ist die griechische Mythologie nicht fantastisch? Erzählt sie nicht alles, was Menschen auch im 21. Jahrhundert bewegt? Athene ist die Klügste der Klugen, Aphrodite die Schönste der Schönen. Wer streitet heutzutage nicht um diese Titel? Wer wünscht sich nicht, Athene, Aphrodite oder Eos zu sein? Die Göttin der Morgenröte verkörpert den Start in den Tag, den Neuanfang. Und der Autovermieter gibt uns passenderweise einen Eos, das knuffige Cabrio von VW. Klasse!

„Attika hat eine Bedeutung“, sagt Mikis, ein Student, der im Zentrum von Athen um den Eos herumstreicht und ungefragt drauflos plaudert: „In der antiken Architektur wird der auf Säulen ruhende Querbalken so genannt, er demonstriert Herrschaftsanspruch.“ – Pause. – „Aber so wie Athen nicht nur die Akropolis ist, so ist Attika nicht nur Athen!“ – Pause. – „Und was kostet so ein Eos?“

Attika ist das Reich, das sich zu erobern lohnt; ob in den Kneipen von Piräus, einst der größte Hafen des Altertums und noch heute einer der bedeutendsten des Mittelmeers, oder in asketischer Ruhe im Kloster Dafni; ob entlang der weltberühmten Marathon-Strecke oder innerhalb der Höhlengänge von Koutouki; ob in einsamen Weinbergen oder in trubeligen Küstenorten – Attika ist Griechenland im Kompaktformat.

Es geht in Richtung Kap Sounion, jenem steilen Fels, auf dessen höchstem Punkt griechische Erhabenheit thront: die Ruinen des Poseidon-Tempels. Sie strahlen eine lebendige und trotzdem stille Größe aus. Die griechische Mythologie scheint jetzt real zu werden: Ein Stadtstaat taucht auf mit Tempel, Theater und Orakel, ein Hafen mit Schiffen, Weinberg, Winzer und vielem mehr. Schnell wird der Platz eng, umso wichtiger wird es, sich die fruchtbarsten Landstriche und Polis, die Stadt, zu sichern. So muss es wohl gewesen sein im antiken Attika. Und so ist es heute noch. Sinnigerweise bekam die jüngere Variante des Monopoly-Spiels den Namen Attika.

Rund 40 Meter ist die Küste am Kap Sounion an der windigen Südostspitze von Attika hoch. Dutzende von Bussen karren Touristen heran. Aberdutzende Führer dienen sich an, die Geschichte des Poseidon-Tempels zu erzählen. 16 schlanke weiße Rundsäulen und zwei Eckpfeiler ragen dachlos in den strahlend blauen Himmel der Griechen. Den nach Athen einlaufenden Schiffen bietet er schon aus kilometerweiter Entfernung Orientierung. Deshalb ist die Anlage auch Poseidon geweiht, dem Meeresgott.

Selbst Dichterfürst Lord Byron – ein Griechenland-Fan, wie er im Buche steht – konnte es sich nicht verwehren, seinen Namen in einen der Pfeiler des Tempels zu ritzen. Somit war der Schriftsteller einer der Schuldigen dafür, dass die großartige Tempelanlage heute leider eingezäunt ist.
Jochen Müssig