Russland

Mit Pelzmütze und Bikini

Die Kuppel der Isaakskathedrale zählt zu den größten der Welt.

Sankt Petersburg wird auch „Venedig des Nordens“ genannt – ein Vergleich, der in mancherlei Hinsicht hinkt

Mehrere Millionen Menschen rollen täglich hinab zur Sankt Petersburger U-Bahn.

Touristenmagnet im Süden von Sankt Petersburg: der Katharinenpalast mit der Rekonstruktion des Bernsteinzimmers. Fotos: pa

Wenn eine Stadt viele Kanäle, Grachten oder Lagunen besitzt, außerdem auch einige prächtige Bauwerke und vorzeigbare Plätze, dann scheint ihr das fast unweigerlich den Titel „Venedig des Nordens“ einzubringen. Amsterdam, Berlin und Brügge werden so genannt, ebenso Kopenhagen, Stockholm und Sankt Petersburg, um nur einige zu nennen.

Als wir auf dem achtspurigen Moskowski-Prospekt vom Flughafen in die Sankt Petersburger Innenstadt rollen, vorbei am Platz des Sieges mit dem Denkmal für die Verteidiger Leningrads, dann hermetische Häuserblocks im Stalinbarock passieren, Jugendstilfassaden erblicken und schließlich klassizistische Prunkbauten, da wird uns klar, dass wir uns das russische Pendant der Lagunenstadt irgendwie anders vorgestellt hatten: weniger Ebenmaß, mehr Charme, weniger Aufgeräumtheit, mehr Zerfall, weniger Plan, mehr Zufall, weniger Hochglanz, mehr Sepia.

Wenn man bedenkt, dass die Millionenmetropole an der Newa erst vor 300 Jahren auf dem Reißbrett entworfen wurde, sind die perfekten Proportionen allerdings nicht sehr verwunderlich. „Peter der Große wollte eine Stadt erschaffen, in der ihn nichts an Moskau erinnerte“, sagt unsere Reiseleiterin Irina. „Ein Fenster nach Europa.“ Dass für die Vision Tausende von Zwangsarbeitern sterben mussten, ist die Schattenseite der Geschichte.

Doch vielleicht erschließt sich auf den zweiten Blick, warum Sankt Petersburg gerne mit Venedig verglichen wird. Keine Frage: Beide Städte sind von Wasser geprägt. In Sankt Petersburg gibt es 90 Kanäle und mehr als 500 Brücken. Venedig kommt auf 435 Brücken, schlägt die nordische Namensvetterin aber knapp in puncto Paläste.

Das war’s dann aber auch schon mit den offensichtlichen Gemeinsamkeiten. Was nicht weiter schlimm ist, denn die Zarenresidenz hat eine Anlehnung an den Touristenliebling aus Italien gar nicht nötig. Sankt Petersburg ist eine stolze Schönheit, ungebrochen trotz Revolutionen und Blockaden, ja sogar strahlender denn je, seit zum 300. Stadtjubiläum 2003 alte Schätze aufpoliert und neue Projekte realisiert wurden.

Nicht zuletzt profitiert Sankt Petersburg auch davon, die Geburts- und Lieblingsstadt Putins zu sein. Der Volksmund hat deshalb einen weiteren Beinamen kreiert: „Putinburg“. Flughafenerweiterungen, neue Metrolinien und frisch geschminkte Fassaden zählen zu den jüngsten Verbesserungen. Pittoresker Verfall wie in der italienischen Dogenstadt? Eher Fehlanzeige. Auch keine Taubenplage und keine Plätze, auf denen kein Durchkommen ist, zumindest nicht in der Nebensaison.

Man muss viel Fantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass an der Mündung der Newa bis vor gar nicht langer Zeit nur Sumpf war – dort, wo heute kilometerlange Edelboulevards jedem Wildwuchs höhnen, goldene Zwiebeltürme wie Kerzenflammen in den Himmel leuchten und ein modernes U-Bahn-System tief unter der Erde täglich mehrere Millionen Menschen befördert.

Besonders dicht stehen die Sehenswürdigkeiten am Newski-Prospekt. „Schauen Sie links“, ruft Irina, „und jetzt schnell rechts und dann wieder links.“ Am Busfenster fliegen die bunten Zwiebeltürme der Erlöserkirche vorbei, dann die wuchtige Kasaner Kathedrale, irgendwo dahinter leuchtet die Goldkuppel der Isaakskathedrale.

Apropos Zwiebeltürme: Sind die nicht eher untypisch für Venedig? Und wie viel Schnittmenge gibt’s beim Wetter? Venedig streichelt seine Gäste mit milden Temperaturen, in Sankt Petersburg hingegen ist nur berechenbar, dass Petrus’ Launen unberechenbar sind. „Wenn wir aus dem Haus gehen, nehmen wir immer alles mit“, sagt Irina. „Sonnenbrille, Schirm, Bikini und Pelzmütze.“
Pilar Aschenbach
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