Tschechien

Die kleine Schwester

Karlstein liegt zwischen Pilsen und Prag und ist das Musterbeispiel einer mittelalterlichen Burg.

Die Bierstadt Pilsen steht klar im Schatten des nahen Prag, darf sich aber trotzdem 2015 mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas schmücken

Für die meisten Besucher sind sicherlich die Brauereien ein Hauptgrund, nach Pilsen zu reisen.

Wurststand auf dem Marktplatz in Pilsen. Fotos: jm

Das ist mir egal“, sagt die Standl-Frau, die am weitläufigen Marktplatz von Pilsen ihre Kartoffeln und Pilze feilbietet. „Ja, ich habe davon gehört“, meint ein Student im Vorbeigehen und eilt zur Uni. Lediglich der freundliche Verkehrspolizist antwortet voller Stolz auf die Frage, was es für Pilsen bedeute, 2015 Kulturhauptstadt Europas zu sein: „Das ist eine große Ehre für unser schönes Pilsen.“

Die Auszeichnung Kulturstadt Europas gibt es seit 1985, als mit Athen ein wahrlich würdiger Kandidat den Reigen eröffnete, gefolgt von kaum weniger interessanten Metropolen wie Paris, Berlin und Madrid.

Ausgerechnet mit dem Zusatz Hauptstadt ab 1999 verwässerte die Auswahl zusehends. Als Kulturhauptstadt Europas kamen Städte ins Rampenlicht, die im übertragenen Sinn nicht mal in der 2. oder 3. Liga spielen, etwa Sibiu in Rumänien, Kosice in der Slowakei und Umea in Schweden – und eben jetzt, 2015, das unscheinbare Mons in Belgien im Duett mit Pilsen. Deutschland war mit Berlin, Weimar und Essen dreimal vertreten und kommt erst 2025 wieder zum Zug, wobei die Stadt noch nicht feststeht.

Pilsen, tschechisch Plzen, befindet sich nicht nur im Heimatland klar im Schatten von Prag, dennoch bietet die 165.000-Einwohnerstadt am weitläufigen Marktplatz mit seinen Giebelhäusern aus der Renaissance und dem Barock, wo die Standl-Frau und andere Bauern der Umgebung fleißig ihre frischen Waren verkaufen, mit der St.-Bartholomäus-Kathedrale den mit 103 Metern höchsten Kirchturm Tschechiens. Der bleibt allerdings die ersten Wochen im Kulturhauptstadtjahr wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Für die meisten Besucher wird jedoch das original Pilsener ein Hauptgrund sein, nach Pilsen zu reisen. Und das Brauereimuseum von Pilsner Urquell liegt auch, bequem erreichbar, mitten in der Stadt. Bereits 1295 verlieh König Wenzel II. den Bürgern von Pilsen das Braurecht.

Von Pilsen aus lohnt aber auch eine Fahrt durch die böhmischen Dörfer, denn in der Umgebung wartet ein Must-See auf Kulturhauptstadtniveau: Karlstein liegt zwischen Pilsen und Prag und ist das Musterbeispiel einer mittelalterlichen Burg. Karl IV. ließ sie als Tresor seines Krönungsschatzes bauen. Besichtigungsrunden der Privat- und Repräsentationsräume mit der reich geschmückten Schatzkammer sowie die Aussicht vom Großen Turm sind jedoch nur mit Führer möglich.

Auch das Kloster Kladruby, 30 Kilometer westlich von Pilsen, ist ein besuchenswertes nationales Kulturdenkmal. Schließlich ist die Klosterkirche im Stil der böhmischen Barockgotik das drittgrößte Kirchengebäude in Böhmen. Und so kommt für die Bierstadt Pilsen ein Gesamtpaket zusammen, das die Vergabe des Kulturhauptstadt-Titels rechtfertigt. Laut Vergabeverordnung der Kulturinitiative der EU sollen ja nicht nur die kulturellen Aspekte der betreffenden Stadt, sondern auch der Region präsentiert werden.

Der nette Verkehrspolizist vom Pilsener Marktplatz hatte das erkannt. Denn er fügte auf die anfangs gestellte Frage noch hinzu: „Und Karlstein ist für jeden Tschechen ein ganz besonderer Ort für unser nationales Selbstbewusstsein“. Weitere Infos unter www.pilsen.eu.
Jochen Müssig
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