Italien

Venedig: Geisterhafte Kanäle

Venedig braucht kein helles Sonnenlicht, um sich in Szene zu setzen. Die mystisch-herbstliche Atmosphäre tut der Stadt gut

„Stille Nacht“ und lange Schatten in der Vorweihnachtszeit

Mehrere Tausend Kalorien gefällig? In der Vorweihnachtszeit kein Problem. Fotos: Alois Wonaschütz/pixabay, hs

Es ist, als ob von einem Balkon im Cannaregio-Viertel an diesem Abend Weihnachtslieder in die dunklen Gassen herabrieseln und in den schwarzen Kanälen versinken – bis jemand oben in der Wohnung die Balkontür schließt, die Musik nun fast verschwunden ist. In zwei Fenstern hängen elektrisch beleuchtete Weihnachtssterne. Und irgendwo in der Ferne läuten die Glocken einer Kirche über der Lagunenstadt.

Ruhig ist es geworden – nicht nur in den engen Gassen des alten Handwerkerviertels von Venedig, auch auf der von Geschäften gesäumten Strada Nuova. Nur einzelne Schritte hallen in den Seitengassen durch die Nacht, werden von den Fassaden hin und her geworfen. Lange Schatten eilen über die Brücken, und mancherorts zieht zarter Nebel über dem Wasser auf. Von irgendwoher lacht jemand aus dem Dunkel, und in einem Hauseingang küsst sich ein Paar.

Deko und ein Oratorium

Spätabends ist es still in Venedig, fast einsam in den Straßen entlang der Kanäle, in den Schluchten zwischen den Patrizierhäusern. Manchmal sogar wirkt es ein wenig geisterhaft – bis eine Straßenbiegung und zwei kleine Brücken weiter wieder adventliche Deko ins Blickfeld gerät und aus der einen Spalt breit geöffneten Tür einer Kirche Weihnachtsmelodien klingen. Diesmal sind es helle Stimmen, und noch nicht jeder Ton sitzt. Doch noch ist Zeit zum Üben, das Plakat an der Kirchentür kündigt Auszüge aus Bachs Weihnachtsoratorium an.

Gondoliere mit Weihnachtmütze

Venedig in der Vorweihnachtszeit – das sind natürlich auch Weihnachtsmärkte wie anderswo, das sind sogar ab und zu als Weihnachtsmänner verkleidete Gondoliere auf dem Canal Grande, weil irgendwer mal meinte, so etwas würde vielleicht den Tourismus ankurbeln. Es gibt Stände mit gerösteten Maronen, Süßigkeitenläden mit Bergen von Schoko-Weihnachtsmännern in Alufolie und Türmen von Panettone-Kuchen. An der Fassade des kleinen Kaufhauses nahe der Rialtobrücke leuchten die elektrischen Weihnachtssterne, in den Schaufenstern hat es weißes Konfetti geschneit.

Aus all dem machen vor allem die Abende etwas ganz Besonderes, diese Spaziergänge bei Dunkelheit, wenn die Reflexionen einzelner Lichter im Wasser der stillen Kanäle die eigentliche Weihnachtsbeleuchtung sind. Von irgendwoher zieht noch eine letzte Schwade Röstmaronen-Geruch herüber, von anderswo her duftet es nach Vanilleplätzchen, die gerade jemand zu Hause bei halb geöffnetem Fenster backt.

Erst an den Weihnachtsfeiertagen füllen sich Hotels wie Straßen langsam wieder, und an Neujahr herrscht Rummel wie im Sommer. In den Wochen vor Weihnachten aber scheint dieses adventliche Venedig zur Ruhe zu kommen. Das liegt vor allem am Wetter, denn im Dezember ist Venedig nicht diese Katalogschönheit wie auf den Karnevals- und den Sommerbildern. Schnee gibt es zwar fast nie, hauchzarte Eisschichten auf den Pfützen am Morgen manchmal. Oft ist es nasskalt, neblig und häufig kommt es gerade um diese Jahreszeit zu Acqua Alta, dem berühmt-gefürchteten Hochwasser. Ob das für Fremde schlimm ist? Eher im Gegenteil. Es ist ein Erlebnis. 

Helge Sobik
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