Die Stadt war lange ein Symbol für die Rückständigkeit des Südens – nun glänzt der Ort in der Basilikata als Europas Kulturhauptstadt
Wer in die Unterwelt reisen will, braucht gute Schuhe. Also keine Espadrilles, sondern Wanderstiefel. Damit machen Besucher zwar keine wirklich „bella figura“, schlittern dafür aber auch nicht wie auf einer Eisbahn über das im Laufe der Jahrhunderte von Maultierhufen glatt polierte Pflaster. Wichtig für die Tour in den Untergrund ist auch eine Sonnenbrille. Solange man noch den blauen Himmel sieht, ist es für die Augen nämlich viel zu hell. Unter der süditalienischen Sonne gleißt der weiße Kalkstein, dass man ständig die Augen zusammenkneift.
Der erste Eindruck von Matera: Ein von Menschenhand gemauertes Labyrinth aus blendend grellem Stein, das wie ein Schwalbennest an einem Bergsporn über einer Schlucht klebt. Besucher irren orientierungslos durch die Gassen, steigen unzählige Treppenstufen herauf und herunter. Das könnte nerven, ist aber ziemlich unterhaltsam. Man stört nämlich in den Passagen der Oberstadt die Jugend beim Knutschen, sieht in den Innenhöfen flatternde Unterwäsche auf der Leine und trifft auf schneidige Männer in Gala-Uniform, die ein Brautpaar hochleben lassen.
Um die Ecke liegt der Eingang zum „Palombaro Lungo“, einem Wasserreservoir von gigantischen Ausmaßen, das lange vergessen war und durch Zufall wieder zum Vorschein kam. Wie so vieles in Matera. Denn ob hinter den Fassaden der Restaurants oder den Läden, ob hinter den Kapellen oder dem Musma, einem Museum für Skulpturen: Immer ist der Berg durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Unter der Erde liegen viele Tausend Höhlenwohnungen.
Die Basilikata liegt am Stiefelabsatz in Italiens Süden. Vor 8.000 Jahre siedelten sich hier Nomaden an und wohnten in natürlichen Öffnungen im Kalkstein. Im Laufe der Zeit wurden die Höhlen vergrößert. Später siedelten sich christliche Einsiedler an. Rund um Matera gibt es deswegen Hunderte Felsenkirchen. Eine begeistert besonders: Die Fresken der „Krypta der Erbsünde“ stammen aus dem achten Jahrhundert – sie gilt als die „Sixtinische Kapelle der Felsmalerei“.
2019 ist ein besonderes Jahr für Matera: Der Ort zählt seit Langem zum Unesco-Welterbe, steht nun aber auch als Kulturhauptstadt Europas im Rampenlicht. In der Nachkriegszeit war der Ort dagegen noch ein Symbol für die Rückständigkeit von Italiens Süden. Die Menschen teilten sich ihre Höhlen mit Kühen, Ziegen und Schweinen. Das Elend war so dramatisch, dass die Regierung in Rom handelte: 15.000 Bewohner wurden in Sozialwohnungen umgesiedelt – und die Altstadt verfiel.
Die Initiative einiger Studenten, Materas Rolle als Filmkulisse und das Geld von Investoren haben die Höhlen gerettet. Heute wohnen wieder Einheimische, aber auch Besucher in den Grotten. Daniele Kihlgren machte mit dem Sextantio Le Grotte della Civita den Anfang. Jahrelang wurde restauriert, nun gibt es Fünf-Sterne-Luxus in mittelalterlichem Ambiente. Die Zimmer verteilen sich auf 18 alte Höhlen: „Albergo Diffuso“ heißt das Konzept, bei der die ganze Gemeinde zum Gastgeber wird und man Tür an Tür mit Einheimischen wohnt.