Wer um den absurd blauen Gelmersee wandern möchte, muss mit der Gelmerbahn hinauf. Deren Steigung von 106 Prozent ist nicht jedermanns Sache.
Wie kann eine Standseilbahn denn eine Steigung von 106 Prozent haben? Ist das Ding etwa überhängend? Solche Überlegungen stellen nicht nur die mitreisenden Kinder und Jugendlichen an, auch den Erwachsenen ist unklar, wie steil man sich genau die steilste offene Standseilbahn Europas vorstellen soll. Das ist die Gelmerbahn im Berner Oberland – und in wenigen Minuten sollen wir einsteigen.
Am Kassenhäuschen kennen sie die Frage schon, die Antwort selbstverständlich auch. Eine Steigung von 100 Prozent bedeutet: Auf einer waagerechten Strecke von 100 Metern geht es 100 Meter senkrecht nach oben, der Neigungswinkel beträgt 45 Grad. Und 106 Prozent sind dann eben noch einen ordentlichen Tick steiler.
Zwölf Minuten Achterbahngefühl
Der kleine mathematische Exkurs hilft nur so lange weiter, bis man tatsächlich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung nach oben gezogen wird. Das Erlebnis hat eindeutig etwas von Achterbahn und nicht wenige der Mitreisenden sind froh, als das knapp 100 Jahre alte Bähnchen nach zwölf Minuten an der Bergstation angekommen ist.
Auf 1.850 Metern Höhe entschädigt der Blick auf den Gelmersee dann sofort für den erhöhten Adrenalinspiegel. Der künstlich angelegte Stausee ist so absurd knallblau, dass die Kinder sofort mutmaßen, dass da kein Wasser, sondern Powerade drin ist. Ausschließen möchte man es nicht.
Bergbahn und See gehören zum touristischen Angebot des Kraftwerkbetreibers, der so genannten „Grimselwelt“. Durch diese führte Roland Frutiger mehr als 40 Jahre lang Touristen. Im Sommer als Bergführer, im Winter als Leiter der Skischule. Bürgermeister einer kleinen Gemeinde war er auch noch. Mittlerweile ist er Mitte 70 und lässt es sich weiterhin nicht nehmen, Gäste aus dem In- und Ausland ab und an zu begleiten.
„Ohne den Tourismus und das Kraftwerk wäre unser Tal mausarm“, sagt Frutiger. „Aber schaut euch doch mal um: Ist es nicht wunderschön hier? Das Paradies!“
In der Tat kann man sich an diesem strahlend schönen Sommertag kaum einen malerischeren Ort vorstellen als dieses perfekte See-, Berge- und Alpenblumenpanorama. Man möchte sich glatt eine Fototapete drucken lassen.
Erst Rummel, dann Ruhe
Ein gut begehbarer Rundweg führt einmal um den See herum. Auf den ersten paar hundert Metern hinter der Seilbahn ist noch recht viel los, nach wenigen Minuten hat man aber weitgehend seine Ruhe. Schließlich kommt ein Großteil der Touristen ausschließlich wegen des Seilbahn-Nervenkitzels und zeigt an der umliegenden Natur nur geringes Interesse.
Umso besser für alle, die die etwa zweistündige Wanderung in Angriff nehmen. Trittsicher sollte man sein, gefährlich oder steil ist die Tour jedoch nicht. Wer mehr Zeit und Kondition hat, kann noch einen Abstecher zur Gelmerhütte einplanen. Generell empfiehlt es sich, öfter mal Pausen einzulegen, die Füße ins eiskalte Wasser zu halten, flache Kiesel zu flippen und den alten Geschichten von Roland Frutiger zu lauschen.
Viele Jahrhunderte lang sei der Grimselpass eine wichtige Verbindung zwischen Italien und Nordeuropa gewesen, sagt er. In die eine Richtung wurden auf Eseln und Maultieren Wein und Gewürze transportiert, in die andere Richtung Käse, Felle und Häute. Und immer verdienten die Bewohner des Tals an den Zöllen gut mit. „Als im Jahr 1882 die Gotthardbahn eröffnet wurde, war dieses Geschäftsmodell auf einen Schlag beendet. Erst als die ersten Gletscherforscher gegen Ende des 19. Jahrhunderts kamen, gab es wieder einen Aufschwung. So entstand der Fremdenverkehr.“
Und dieser hält sich bis heute sehr gut, was in erster Linie den Stauseen und der Bergbahn zu verdanken ist. Roland Frutiger würde gerne noch mehr Unterkünfte für Touristen in dem engen Tal sehen, denn es lohne sich durchaus, hier länger als nur für einen Tagesausflug zu bleiben.
Wir hätten nichts dagegen, doch die letzte Bahn fährt auch uns am Nachmittag ins Tal. Noch einmal weiche Knie und feuchte Hände, dann verlassen wir diesen irgendwie unwirklich schönen Ort.