USA

Im Schatten von Yosemite

Zwischen den Mammutbäumen kommen sich Menschen vor wie Ameisen zwischen langen Grashalmen. Foto: cs

Kalifornien: Im Sequoia-Nationalpark wachsen die dicksten Bäume  

Hier könnten locker drei Smarts parken und die Fahrer hätten noch genügend Platz zum Aussteigen. Nur wird hier niemals ein Auto vorfahren. Schließlich befinden wir uns mitten in der unberührten Natur, in einem US-Nationalpark, in einem Wald, in einem Baum. Ein Feuer hat ein großes Loch in seine Flanken gefressen und ihn ausgehöhlt.

Im Sequoia-Nationalpark in Kalifornien stehen einige der größten Bäume der Welt. Nicht die höchsten, nicht die ältesten, aber die dicksten. Gemessen am Volumen kann es kein Lebewesen auf der Welt mit ihnen aufnehmen. Elf Blauwale müssten sich auf eine Waage schmeißen, um dem größten Mammutbaum mit seinen rund 1.400 Tonnen Konkurrenz zu machen. Selbst die Freiheitsstatue würde neben ihm erblassen, weil sie ihre Fackel noch einige Meter höher recken müsste, um die Krone zu erreichen.

Dieser Park ist ein Paradies für Naturliebhaber und Bergsteiger. Hunderte Kilometer einsame Wanderwege ziehen sich durch die Wildnis. Selbst Wanderer, die Mehrtagestouren scheuen, lassen die Zivilisation ruckzuck hinter sich. Denn trotz der traumhaften Bedingungen kommen verhältnismäßig wenig Besucher hierher. Die meisten zieht es gleich 120 Kilometer weiter nördlich ins bekannte Yosemite-Valley, das eng verwandt ist mit dem Sequoia-Park. Denn die Entstehungsgeschichte der Gebirge ist sehr ähnlich.

So könnte Yosemite demnach der berühmte Onkel sein, ein Schauspieler vielleicht, dem jeder die Hand schütteln will, den jeder sehen will. Dann aber ist Sequoia der unterschätzte Neffe, der eigentlich viel mehr auf dem Kasten hat, dessen Talent bisher nur kaum einer erkannt hat. Welcher Park ist größer und abwechslungsreicher? Wer hat die höheren Berge? Die größeren Bäume? Wo finden Urlauber mehr Ruhe und die günstigeren Unterkünfte und Restaurants? Wo gibt es die schöneren Sonnenuntergänge? Die Antwort lautet immer: Sequoia. Es ist ein Rätsel, warum es jener Park in der Gunst so viel weiter nach vorne geschafft hat, der in entscheidenden Punkten unterlegen ist.

Auch Sequoia-Rangerin Georgia Etter kann es sich nicht erklären. Früher hat sie im Yosemite-Park gearbeitet und erinnert sich noch gut an die Hektik am Morgen, wenn 15.000 Menschen gleichzeitig ins Tal wollten. Heute steht sie also vor einer Urlaubergruppe im Sequoia-Park, die unfreiwillig Rücken- und Nackengymnastik macht.

Die Blicke wandern immer wieder von den Wurzeln der Riesenbäume zur Krone, und dazu muss man den Kopf ganz schön weit in den Nacken werfen und sich mit den Händen am Gesäß abstützen. Knapp 100 Meter höher zwängen sich die Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und zerreißen die feuchten Schwaden, die wie ein Netz im Wald hängen. Man kommt sich wie eine Ameise zwischen langen Grashalmen vor.

"Nur" wenige hundert Jahre dauert es, bis ein Baum so groß ist, dass er sich der Länge nach über ein komplettes Fußballfeld legen kann. "Dann wächst er nur noch in die Breite, wie wir US-Amerikaner." Mit diesem Scherz hat sich die Rangerin den Zorn eines rundlichen Landsmannes zugezogen.

Der versucht, sie zu ärgern und schwärmt von der tollen Infrastruktur im Yosemite-Tal. Dort könne man mit einem Bähnchen von einem Riesen zum nächsten fahren und müsse nicht lange laufen. Und überhaupt sei der Service viel besser und die Ranger wüssten viel mehr zu erzählen. Georgia kontert auf ihre Art: "Wir haben fast 5.000 Mammutbäume mit mehr als drei Metern Durchmesser. Da muss man nicht lange Zug fahren, um einen zu finden."
Christian Schreiber