USA

New York: Fünftelmeile für fünfzig Cent

Die Höhepunkte von Big Apple durchs Taxifenster erleben

Saeed Mokatir hupt zusammengenommen gut drei, bremst sechs und tritt im Schnitt nur zwei Stunden am Tag aufs Gaspedal, manches davon zeitgleich. Meistens steht er jedoch im Stau. Zwischendurch trippelt er nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad, zuckt mit den Pupillen von Spiegel zu Spiegel, wechselt die Spur in der Hoffnung, es möge zwei Meter Geländegewinn bringen.

Der Mann ist im Stress, jeden Tag. Er ist Taxifahrer in New York. Und er versteht nicht, warum so ein Stau für manche seiner ausländischen Fahrgäste zum Hochgefühl gehört. Er ahnt nicht, dass sie diese Stadt gerade im Taxi unmittelbarer spüren als überall sonst – weil sie plötzlich im Lebensrhythmus der Mega-Metropole stecken, nur durch eine gelb lackierte Blechwand von der Welt da draußen getrennt sind.

Wie Blutkörperchen
Wäre diese Stadt ein Organismus, man könnte meinen, New York atme Taxis ein und aus. Oder sie schwemmten durch die Straßen von Manhattan wie Blutkörperchen durch die Aorta. In endlosen Strömen werden sie von frühmorgens bis spätnachts über die Williamsburg Bridge und durch den Queens- Midtown Tunnel gepumpt, sortieren sich an den Ampeln neu, umfließen Engpässe, rauschen an ‧Gabelungen in alle Abzweigungen hinein.

„The city that doesn’t sleep“, hat Frank Sinatra gesungen: Manhattan ist das Herz dieser Stadt – schnell, hektisch, nicht zur Ruhe zu bringen. Taxifahrer ‧Mokatir ist ein Teil dieser Hektik. Die Gesichter, die er im Rückspiegel sieht, sie wechseln im Minuten-, manchmal im Halbstundentakt. 2,50 Dollar Grundgebühr kassiert er von ihnen, dazu 50 Cent pro Fünftelmeile sowie tageszeitabhängige Zuschläge.

Die Augen der Menschen auf der Rückbank seines Taxis blicken ihm über die Schulter. Sie schauen über das abgewetzte rote Kunstleder der Sitzbezüge durch die Scheibe auf der Fahrt vom Flughafen JFK draußen in Brooklyn hinein ins pulsierende Zentrum, über den East River hinüber ins Hotel nach Man‧hattan, vorbei an all den Bildern, die sie aus dem Kino kennen – oder vom letzten Besuch.

Und wieder ein Taxi anhalten
Reize sind im Übermaß vorhanden, abschalten ausgeschlossen: von der Spitze des Empire State Building auf die mit gelben Punkten angefüllten Adern herabblicken. Dann Galerienbummel in Soho, kurz darauf mit einer Pferdekutsche durch den Central Park schaukeln und abends die New Yorker Philharmoniker erleben– immer per Taxi von Spot zu Spot.

Sechs, sieben Arme recken sich am nächsten Vormittag am Kantstein vor dem Edel-Juwelier Tiffany an der Fifth Avenue in die Höhe: Taxis anhalten. Nächstes Ziel? Im Museum of Modern Art einen Blick auf Dalis Klassiker mit der zerfließenden Uhr werfen. Im Riesenkaufhaus Bloomingdale’s durch die Drehtür huschen, einmal schauen, wo John Lennon gewohnt hat – und wieder ein Taxi anhalten.

Dann durch die Lower East Side hinunter zu den Bootsanlegern fahren, für gut zwei Stunden bei einer Yacht-Cruise um die Spitze von Manhattan Lady Liberty aus nächster Nähe „Guten Abend“ sagen und nebenbei an Bord nett speisen, bis die Hälfte der Gäste plötzlich das Besteck fallen lässt und zur Tanzfläche eilt. Aus den Boxen tropfen Worte, die man schon mal gehört hat: „The city that doesn’t sleep.“
Helge Sobik