Kanada

New Brunswick: Dramatische Kulissenwechsel

Die Hopewell Rocks an der Bay of Fundy erinnern an überdimensionale Blumentöpfe. Foto: mw

Die kleine Provinz ist nur Insidern bekannt. Dabei begeistern ihre Küsten mit den höchsten Gezeiten der Welt und mit viel Wildlife

„Bitte füttern Sie keine Wildtiere!“ Die schriftliche Aufforderung in der Beaverbrook Art Gallery im Zentrum von Fredericton wirkt surreal zwischen gediegener Kunst und teuren Parkettböden. Aber in New Brunswicks kleiner Hauptstadt kann man nie wissen, wer einem über den Weg läuft.

Vor einigen Jahren hat eine Überwachungskamera im ehrwürdigen Parlamentsgebäude nebenan aufgezeichnet, wie ein Reh durch die Sicherheitsschleuse hineinstürmte. Das Video wird heute Besuchern vorgeführt.

Jede Menge Tiere
Aber auch sonst tummelt sich viel Wildlife in der Provinz an Kanadas Atlantikküste. Die ist gut doppelt so groß wie Nordrhein-Westfalen, hat aber nur 750.000 Einwohner und bislang kaum internationale Gäste. In den dichten Wäldern wohnen Elche und Schwarzbären.

Aber vor allem die Küste an der Bay of Fundy hat es in sich. Sie ist nicht nur der längste unerschlossene Küstenstreifen zwischen Baffin Island und Florida. Hier sorgen auch die höchsten Gezeiten der Welt zweimal am Tag für dramatische Kulissenwechsel. Im ständig ausgetauschten Wasser suchen Papageitaucher, Delfine und Wale nach Nahrung. Am Meeresgrund wachsen Hummer in 60 Jahren zu wahren Meeresmonstern mit über zwölf Kilogramm heran.

Am sichtbarsten wird der Gezeitenwechsel südlich der Hauptstadt an der Mündung des Saint John River. Bei Ebbe ergießt sich der Fluss an den Reversible Falls unter der Wasseroberfläche in ein 60 Meter tiefes Mündungsloch.

Doch wenn alle 12,5 Stunden die Flut in die Bay of Fundy kommt, überrollt sie förmlich das Flusswasser und drückt es landeinwärts zurück bis nach Fredericton. Derart dynamisch sind die Strömungswechsel, dass Schiffe die Nahtstelle nur 20 Minuten lang passieren können, wenn sich beide Fließrichtungen neutralisieren.

„130 Milliarden Tonnen Wasser schießen bei Flut in die Bucht“, sagt Mike Carpenter, der als Outdoor-Lehrer für eine Privatschule in Saint John Kletterkurse und Bootsausflüge organisiert. Mit diesem Wasser könne man den Grand Canyon fluten, sagt der Pädagoge.

Mit dem Seekajak in die Bucht
Mike lädt ein ins nahe 300-Seelen-Dorf St. Martins, wo er auch Touristen im Seekajak mit aufs Wasser nimmt. Einfach ausleihen geht nicht. Dafür sei die Bay of Fundy viel zu pikant, sagt er und schiebt barfuß den knallroten Doppelrumpf-Zweisitzer ins zwölf Grad kalte Wasser. Die Bucht, die sehr tief beginnt und dann nach 220 Kilometern flach ausläuft, erlebt tägliche Gezeitenunterschiede von bis zu 16 Metern.

Links hinter dem Hafen von St. Martins passiert man einen Sandstrand. Am Ende haben die Fluten eine Höhle in die roten Klippen gespült. Die Zeit drängt: Vom Leuchtturm am Quaco Head tutet das Nebelhorn herüber. Seenebel schiebt sich in die Bay und kündigt die Ebbe an. „Bald müssen wir das Boot im Hafen durch den Schlick tragen“, sagt Mike und tritt mit kräftigen Paddelzügen den Rückzug an.

Ein Stück buchteinwärts zeigt das Meer bei Ebbe seine ganze Gestaltungskraft. An den Hopewell Rocks kann man über eine Stahltreppe bis auf den Meeresboden absteigen und darauf spazieren gehen. Wie riesige Blumentöpfe wurden die Felsen von den Fluten zu 20 skurrilen Zinnen, Zacken und einem Liebespaar modelliert. Allzu lang werde die Liebe allerdings nicht halten, glaubt Besucherbetreuer Paul Harris. Spätestens in 120 Jahren breche der Lovers Arch entzwei.

Martin Wein
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