Kanada: Auf den Spuren von Nixen, Waldmenschen und See-Ungeheuern in British Columbia
Die langen blonden Haare wehen im Wind, die schuppige Haut glänzt silbrig. Die Schwanzflosse der merkwürdigen Maid plantscht im seichten Wasser und schlägt es schaumig. Das Wesen – halb Mensch, halb Fisch – relaxt in der warmen Abendsonne an der Küste Westkanadas und kaut auf einem Lachs als wäre er ein Party-Häppchen.
Zwei Dutzend Zeugen können nicht irren: Was die Passagiere der Abendfähre von Nanaimo auf Vancouver Island hinüber aufs kanadische Festland gerade auf einem Felsen hocken sehen, muss eine Meerjungfrau sein. Am folgenden Tag erscheint ihr Foto in der Zeitung „Times Colonist“ in Victoria. Das war im Sommer 1967. Seitdem wiederholen sich ähnliche Meldungen in lockerer Folge.
Monsterpirsch als Urlaubsspaß
Meerjungfrauen, See-Ungeheuer, dazu Affenmenschen in endlosen Wäldern Kanadas: Wo es Natur im Überfluss gibt, ist viel Platz für Legenden aus der Wildnis – für Sommerloch-Anekdoten und für Monsterpirsch als Urlaubsspaß.
Kanada als letztes Zufluchtsgebiet einer Vielzahl von Fabelwesen? „Why not?“ ist die Antwort, wenn man zum Beispiel in der Kleinstadt Prince George herumfragt. Wer hier draußen lebt, wiegelt nicht ab, wenn es um Dinge geht, die nicht in den Schulbüchern stehen.
Fast niemandem ist es peinlich, über den Waldmenschen Sasquatch zu fabulieren, der als nordamerikanisches Gegenstück zum Yeti in den dichten Wäldern der Rocky und der Coastal Mountains zuhause sein soll. Kein vermeintliches Monster ist so sehr Bestandteil der Folklore geworden, keines vereint so viele Sichtungsberichte auf sich wie Sasquatch, ein Name, der auf das indianische Wort Sasqits zurückgeht. Das bedeutet so viel wie „haariger Mensch“.
Die Ureinwohner der Westküstenregion nennen die weibliche Form des Waldmenschen in ihrer Sprache seit jeher Tsonqua, das Männchen Bukwuss. Rund 250 Sichtungen binnen der letzten zwei Jahrzehnte sind allein in British Columbia aktenkundig und akribisch dokumentiert.
Waldmenschen als Touristenattraktion
Demnach soll das Sasquatch-Wesen mit durchschnittlich zwei Meter dreißig groß sein, sich aufrecht fortbewegen, einem Menschen von kräftiger Statur entsprechen und über und über behaart sein. Aus der Tiefe der untersuchten Fußspuren folgern Biologen ein Gewicht zwischen 225 und 365 Kilo. Wenn Menschen sich nähern, suchen die Waldwesen frühzeitig das Weite.
Den Tourismusstrategen von British Columbia können die wiederkehrenden Meldungen nur recht sein: Auch das hält die Region im Gespräch, lockt Neugierige an, spült Geld in die Kassen von Wohnmobilvermietern und Hoteliers, beschert Restaurants Gäste, sorgt für Passagiere bei den Rundflug-Anbietern und kurbelt obendrein den Souvenirverkauf an. Ob Meerjungfrauen, Seeschlangen oder Sasquatches ist dabei egal.
Die Legenden der Indianer erzählen obendrein von mehreren See-Ungeheuern, die sich hier tummeln sollen. Prominentester Vertreter ist Ogopogo – unter dem indianischen Namen N´ha-a-itk seit Jahrhunderten Stammgast in den Überlieferungen. Es soll als nordamerikanisches Gegenstück zum schottischen Seeungeheuer Nessie im Okanagan Lake 250 Kilometer östlich von Vancouver zuhause sein.
Prämie für das See-Ungeheuer
Die Handelskammer der 34.000-Einwohner-Stadt Penticton am Seeufer hatte sogar mal eine Prämie von zwei Millionen Dollar für denjenigen ausgelobt, der die Existenz von Ogopogo zweifelsfrei beweisen könnte. Was immer aufgestöbert würde, sollte sich als mindestens sieben Meter lang erweisen und einer bislang unbekannten oder seit mindestens einer Million Jahren nicht mehr beobachteten Gattung angehören. Das See-Ungeheuer durfte nicht getötet oder gefangen genommen werden.
Garantiert wurde die üppige Monsterpirsch-Prämie von der Versicherung Lloyd´s of London. Und erbracht wurde der Seeungeheuer-Beweis innerhalb der gesetzten Frist nicht. Es darf weitergesucht werden: In Penticton am Seeufer jedenfalls boomt das Geschäft mit Bootsausflügen auf den Okanagan Lake.
Fündig werden Urlauber auf Ogopogo-Fahndung bislang vor allem in den Regalen der Souvenirshops in den Gemeinden am Seeufer. Verkaufsschlager dort sind elf Zentimeter hohe Dosen mit siebeneinhalb Zentimeter Durchmesser und „Ogopogo“-Schriftzug auf dem Etikett. Darin enthalten: ein treudoof blickender Plüsch-Saurier, der sich langsam entfaltet, wenn der Metalldeckel mit einem Dosenöffner entfernt wird.