Brasilien

Brasilien: Zwei Welten in fünf Minuten

Brasilianischer Weg aus dem Elend: Fußball-Weltmeister Jorginho in der Fußballschule einer Favela in Rios Norden.

Zwischen Glanz und Elend in Rio de Janeiro

Claudia und Edualdo vor dem Eingang ihres Arbeitsplatzes. Fotos: jm

Eine goldene Favela-Regel lautet: Nichts gehört, nichts gesehen. Und solange es Viertel gibt, in die sich manchmal nicht einmal die Polizei traut – zumindest wenn sie nicht in Kompaniestärke aufmarschiert –, solange hält sich auch die Legende von der unsichersten Stadt der Welt. Mehr als 750 Slums mit 1,5 Millionen Einwohnern gibt es in der Elf-Millionen-Stadt. Auf den Hügeln der Metropole machen die Drogenbosse die Gesetze – und erlauben Favela-Touren für Touristen, die täglich von 9 bis 14 Uhr organisiert wie ein normaler Ausflug sind: Abholung vom Hotel, Ankunft in der Rocinha, der größten Favela Südamerikas. Ein Spaziergang, ein paar übersetzte Gespräche, ein Drink, mit 25 Euro ist man dabei. Fotos dürfen nicht gemacht werden. So diktieren es die Drogenbosse ...

„Etwa 95 Prozent der Favelistas sind nicht kriminell“, sagt ein Deutscher in Rio, der sich auskennt. Roger Schaaf ist Direktor des Sheraton-Hotels, das direkt an die Favela Vidigal grenzt, woher fast die Hälfte seines Personals stammt. Dorthin verschenkt er ausgemustertes Geschirr oder nicht mehr genutzte Bettwäsche. „Das schafft Vertrauen und bindet das Personal“, sagt der Hamburger, der seit acht Jahren in Brasilien arbeitet. Schaaf berichtet, dass 40 Angestellte während ihrer Zeit im Sheraton den Hauptschulabschluss nachmachten. Alle, die mit Gästen direkt zu tun haben, lernen ein wenig Englisch, und einige schafften den Sprung aus der Favela in eine Mittelklassegegend. Kaum ein Gast des Hotels weiß, dass der Großteil der Angestellten aus der Favela kommt. Kaum ein Tourist vermutet, dass viele der schlecht bezahlten Streifenpolizisten selbst in einer Favela wohnen.

Die 28-jährige Claudia ist Zimmermädchen und stammt aus Vidigal. Sie geht jeden Tag fünf Minuten zu Fuß ins Sheraton und legt dabei eine Strecke zurück, die von Armut in Luxus führt. „Die Alltagsprobleme muss ich in der Favela lassen“, sagt sie. Türe zu und eintauchen in die Luxuswelt des Hotels! Edualdo, ebenfalls aus Vidigal, hat vor sechs Jahren als Tellerwäscher angefangen und arbeitet nun als Kellner in der Frühstücksschicht.

„Wenn ich anstelle eines Touristen wäre, würde ich auch das Leben genießen. Ich verstehe die Reichen“, sagt er nüchtern. Beide sind für das Gespräch vom deutschen Direktor einbestellt. Beide sind extrem nervös und fingern an ihren Stuhllehnen herum. Claudia fasst allen Mut zusammen, als sie fragt: „Mein Tageslohn entspricht einem Teller Essen hier. Wie unfair ist die Welt?“ Den Favela-Tourismus verteidigt sie: „Die Leute sollen ruhig sehen, was Armut bedeutet.“ Claudia wohnt oben in Vidigal. Und je höher man am Hügel wohnt, desto ärmer wird es. Ihre brasilianische Lebensfreude gewinnt aber selbst dieser Situation Positives ab: „Ich habe eine bessere Sicht auf den Strand als alle Gäste des Sheraton.“ Edualdo ist trotz schlechterer Sicht nach unten gezogen, „in ein festes Haus aus Ziegelsteinen, und ich hoffe, bald der Favela den Rücken kehren zu können“.
Jochen Müssig