Großbritannien

Im Märchenwald

Karge Landschaft bei Lochgoilhead im Nationalpark.

Am Loch Lomond finden Urlauber viel Natur – und Kobolde

Grab von Rob Roy MacGregor. Fotos: hs

Sein Ausguck ist nur über eine schmale Metalltreppe zu erreichen, mit einer roten Kordel abgesperrt und liegt eineinhalb Meter über den Köpfen aller anderen Neugierigen: Ray Howells hat den besten Platz, um heimlich Schottlands Elfen, Feen und Kobolde zu beobachten. Der Mann ist Kapitän des Dampfers "Sir Walter Scott". Mindestens dreimal am Tag kreuzt er im weiten Bogen über Loch Katrine und kurvt die Ufer dieses Sees in den dichten Wäldern der schottischen Trossachs entlang. Dort befindet sich der Sage nach das Hauptquartier aller schottischen Märchenwesen.

Während das über 100 Jahre alte Schiff pro Fahrt knapp eine halbe Tonne Kohle in seinen Kesseln verbrennt, hat der Käpt'n einen Durchschnittsverbrauch von drei Bechern Tee auf seinem Steuerstand: "Manchmal", sagt er, "kannst Du die Kobolde vormittags für einen kurzen Moment sehen - etwa zehn Minuten nach dem Auslaufen, wenn sich die Nebelschwaden am Nordufer lichten und über den Tannenwipfeln auflösen." Er zwinkert und greift nach seiner Teekanne.

Nur eine schmale, kurvenreiche Straße führt kilometerweit durch den Wald zur Anlegestelle des Dampfers, und nur eine winzige Siedlung gibt es am Ufer von Loch Katrine, ansonsten nichts als Felsen, Moose, Märchenwald. Der See zählt zu den beliebtesten Ausflugszielen im Nationalpark Loch Lomond and The Trossachs, der mit 1.865 Quadratkilometern etwa das Zweieinhalbfache der Fläche Hamburgs einnimmt. Die Kobolde stört der Andrang nicht. Ihnen bleibt reichlich Platz zum Verstecken in vielfach undurchdringlichen Wäldern.

Im Unterschied zu vielen Nationalparks anderswo in der Welt gehören die Ländereien, die Loch Lomond and The Trossachs ausmachen, nur zu einem kleinen Teil dem Staat. Es gibt Ortschaften innerhalb der Parkgrenzen, dazu Farmen, Schlösser, etliche Golfplätze, sogar Yachthäfen an manchem See. Regeln schränken ein, ein paar zusätzliche Vorschriften für besondere Schutzzonen, neue Industrieansiedlungen sind nicht verboten - aber es gibt keinen Baustopp, keine Umsiedelungen, keine Einschränkungen der bisherigen Landwirtschaft.

"Der Mensch wird nicht ausgesperrt. Im Gegenteil. Er ist willkommen. Er gehört zu diesem Nationalpark", erklärt Rangerin Fiona Wishart. Immerhin ist Loch Lomond, größter Binnensee Großbritanniens, als Herzstück des viele Seen umfassenden Nationalparks das beliebteste Ausflugsziel der Glasgower - und nur etwa eine halbe Autostunde von der schottischen Großstadt entfernt.

Im 18. Jahrhundert hat sich Rob Roy MacGregor hier verschanzt und neue Pläne ausgeheckt. Der Highland-Clanführer war so etwas wie der schottische Robin Hood. Sein Leben hat Hollywood-Produzenten so fasziniert, dass sie es mit Liam Neeson in der Hauptrolle in "Rob Roy" verfilmt haben. Sein Grab neben der kleinen Kirche von Balquhidder innerhalb der Nationalparkgrenzen ist heute Pilgerziel von Film-Fans.

Irgendwann am Abend kehrt der Nebel zurück, als würde wieder ein Vorhang vor das Bühnenbild der Fantasy-Welt gezogen. Irgendein überirdischer Regisseur wird es so entschieden haben, damit Kobolde, Feen, Elfen und alle anderen Wesen aus dem Reich der Sagen nachts ungesehen in den Wäldern der Trossachs und an den Hängen der Highlands aktiv sein können.

Helge Sobik