Ägypten

Wunder gibt es immer wieder

Ohne Schlüssel geht gar nichts: Wächter in Abu Simbel.

Abu Simbel: Zweimal im Jahr scheint die Sonne ins Innere des Tempels  

Jeden Morgen ein neues Wunder: Abu Simbel am Nassersee. Fotos: mk

Verschwindend klein wirken die vielen Menschen, die zu Ramses Füßen auf Einlass warten. Schon seit drei Uhr nachts haben sie draußen vor den 20 Meter hohen Ramses-Kolossen in Abu Simbel ihr Lager aufgeschlagen, um das Sonnenwunder zu sehen.

Bereits im 13. Jahrhundert vor Christus konnten ägyptische Baumeister exakt berechnen, dass die Sonne zweimal im Jahr, jeweils um den 22. Oktober und den 22. Februar, hier den optimalen Stand erreicht. Dann fallen die Strahlen durch das schmale Eingangsportal direkt 65 Meter tief ins Innerste des Tempels. Dort beleuchten sie etwa eine Viertelstunde lang die Götterfiguren im Allerheiligsten.

Dass dies auch noch nach 1964 so blieb, war ebenfalls ein kleines Wunder. Denn der Tempel musste in mehr als tausend Blöcke zersägt und mit Hilfe der Unesco 65 Meter höher und 180 Meter weiter landeinwärts wieder zusammengesetzt werden. Der durch den Assuan-Staudamm entstandene Nassersee stand damals kurz davor, Abu Simbel zu überfluten.

Kurz nach halb vier zieht eine Hundertschaft Polizisten in Paradeuniform vor dem Tempel auf. Mit Seilen sperren sie den Mittelweg vor dem Tempeleingang ab, damit sich die Sonnenstrahlen ungehindert den Weg ins Allerheiligste bahnen können.

Um 5.45 Uhr blicken Tausende Besucher gespannt in Richtung Sonnenaufgang. Handys und Kameras sind gezückt, die Objektive zoomen, die Kameras blitzen. Die Sonne schiebt sich nur langsam über den Horizont. Es dauert, bis sie den Weg ins Tempelinnere schafft und die Polizisten damit beginnen, die Menge hineinzutreiben: Yalla! Yalla! Los! Los! Das Sonnenwunder, ein mystischer Moment? Dafür ist jetzt keine Zeit. Wer stehen bleibt, wird vorangeschubst. Yalla! Yalla!

Ehe man sich versieht, steht man vor den sonnenbeschienenen Göttern Re, Ramses, Amun und Ptah. Schnell muss man aber gebückt daran vorbeihuschen, damit kein Schatten auf die Figuren fällt. Stundenlanges Warten für ein paar Sekunden. Schon um 6.10 Uhr ist das ganze Spektakel ‧wieder vorbei.

Ein anderes Wunder haben die meisten verpasst, denn es vollzieht sich außerhalb des Tempels. Dort richten auch die vier 20 Meter hohen Ramses-Kolosse den Blick zum Sonnenaufgang. Im Morgengrauen wirkten sie noch unnahbar, ihre Gesichtszüge hart, die Augen starr.

Doch sobald die Sonne ihren Weg über die Gebirgskette nimmt, blitzt rosafarbenes Licht im Gesicht der Skulpturen auf. Es ist ganz so, als ob das Sonnenlicht Ramses plötzlich zum Leben erweckt. Für einen Augenblick scheint er sogar zu lächeln. Und dieses Wunder geschieht nicht nur zweimal im Jahr, sondern fast täglich.
Margit Kohl