Japan

„Geweihte“ Stadt Nara

Mehr als 1.000 Sika-Hirsche sollen in Nara leben – sie galten früher als Götterboten.

Mehr als 1.000 Sika-Hirsche sollen in Nara leben – sie galten früher als Götterboten.

Japan: Die einstige Hauptstadt lockt mit tierischen Begegnungen

Der Todaiji-Tempel aus dem achten Jahrhundert gehört zum Unesco-Welterbe.

Der Todaiji-Tempel aus dem achten Jahrhundert gehört zum Unesco-Welterbe. Fotos: fh

Naras prominentesten Bewohnern mangelt es hier und da ein wenig an Zurückhaltung: Sie zerren an den Jacken, stoßen die Passanten mit dem Kopf, und manchmal jagen sie sogar einen oder anderen Touristen vor sich her. Sika-Hirsche sind eben, auch wenn sie aus Japan kommen, nicht unbedingt für Raffinesse bekannt.

Dass man ihnen dieses ruppige Verhalten durchgehen lässt, hat religiöse Gründe: Sie galten im Shintoismus bis 1945 als heilige Götterboten. Mehr als 1.000 von ihnen leben in Nara, mitten in der Stadt, und stellen die architektonischen Attraktionen mühelos in den Schatten.

Gierige Götterboten
Dabei kann Nara historisch durchaus auftrumpfen: Japans erste Hauptstadt, rund 25 Kilometer von Kyoto entfernt, ist ein sympathisches, grünes Städtchen mit wenigen Hochhäusern, dafür aber randvoll mit über 1.000 Jahre alten Tempeln, Ruinen, uralten Schreinen, Gartenanlagen und schiefen Holzhäusern. Einige davon, wie der große Bronze-Buddha des Todaiji-Tempels aus dem achten Jahrhundert, sind Weltklasse.

Für die meisten Besucher ist jedoch der Weg dahin die größte Attraktion. Auf den gepflasterten Wegen zum Todaiji lungern die wilden Hirsche am liebsten herum, denn sie wissen, dass Touristen meist etwas Essbares bei sich tragen. Himmlische Herkunft hin oder her, die Hirsche von Nara interessieren sich vor allem für Irdisches: Hirsch-Kekse zum Beispiel, wie man sie überall in der Stadt für rund einen Euro kaufen kann.

Allerdings tut man gut daran, sie nicht offen in der Hand zu tragen, auch wenn Sika-Hirsche eigentlich friedlich sind – solange kein Futter im Spiel ist. Immer wieder huschen dem Hobby-Fotografen daher kreischende Ausländer durchs Bild, in der Rechten die Kekse, in der Linken die Tasche oder das Handy und eine Handvoll Hirsche an den Fersen.

Andere Tiere haben sich auf gewieftere Methoden verlegt: Sie wissen, dass man sich höflich verbeugen muss, um an die Kekse zu kommen, und haben diese Übung in geradezu aristokratischer Eleganz perfektioniert.

Der „Dear Rescue“ hilft
Auf der großen Wiese vor dem Nara National Museum zeigt sich schließlich, was passiert, wenn ein schneller Hirsch auf einen langsamen Menschen trifft: Am Geweih eines Anführers baumeln eine halbe Jacke und die Reste eines Rucksacks. Der „Hirschrettungsdienst“ ist jedoch schon unterwegs: Zwei Betäubungspfeile später liegt der Sieger auf der Ladefläche eines kleinen grünen Lasters und wird zur Hirschstation gefahren.

Die Bewohner von Nara nehmen solche Zwischenfälle gelassen. Sie sind es gewohnt, im Einkaufszentrum, der Fußgängerzone oder sogar im Aufzug verirrten Exemplaren zu begegnen. Im Dunkeln freilich hört man bisweilen auch Japaner fluchen: Hirschkot, man muss es mal direkt sagen, ist nicht nur schwer zu sehen, sondern auch glitschig und immer gut für einen Knochenbruch.
Francoise Hauser
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