Kanada

Die Seele der Erde

Der Fjord Western Brook Pond liegt nördlich von Rocky Harbour und ist 16 Kilometer lang. Foto: bo

Neufundland: Der Gros-Morne-Nationalpark bietet verschiedene Naturspektakel auf engem Raum

Fast jedes Flugzeug fliegt auf dem Weg nach Nordamerika darüber hinweg – über Neufundland, die dicke Insel vor der Ostküste Kanadas. In deren Westen, in einem Ausläufer der Appalachen, liegt der 1987 zum Unesco-Weltnaturerbe ernannte Gros-Morne-Nationalpark. Er beheimatet Neufundlands zweithöchsten Berg, die höchsten Wasserfälle im Osten Nordamerikas, einen Fjord aus der Eiszeit und die Tablelands.
 Das rote Gestein erinnert an eine Mondlandschaft, doch wenige Kilometer weiter erheben sich die Green Gardens mit üppigem Pflanzenwachstum. Durch diese gegensätzlichen Landschaften führen schöne Wanderungen.

Er thront mitten im Nationalpark: der Gros Morne Mountain, der „Große, einsame Berg“, mit 807 Metern der zweithöchste Berg Neufundlands. Auf die Spitze führt eine 16 Kilometer lange Rundwanderung. Warum diese als besonders schwierig gilt, versteht, wer vor einer sich nahezu senkrecht auftürmenden Geröllwand steht. Als Belohnung für den mühsamen Aufstieg gibt es von der oben flachen, arktischen Tundra das Panorama über eine glazial geprägte Landschaft mit den tiefen Fjord-Armen von Bonne Bay und dem U-förmigen Ten Mile Pond. 

Ebenso beeindruckend ist der nördlich des Hauptortes Rocky Harbour gelegene Western Brook Pond, ein Fjord mit massiven, Milliarden von Jahren alten Klippen. Eine Bootstour führt hinein in den 16 Kilometer langen Fjord, den ein Bergmassiv von bis zu 600 Metern Höhe umgibt.
 „Dieser Pond wurde vor etwa 25.000 Jahren während der Kaltzeit geformt und verlor seine Verbindung zum Meer, als die Gletscher schmolzen“, erklärt der Guide. Heute bestehe der Fjord aus Süßwasser. Ihn ziert der „Pissing Mare“-Wasserfall. Zwar wirkt der Name „Pissende Stute“ wenig schmeichelhaft, aber er zählt zu den höchsten Wasserfällen Kanadas.

Größtes geologisches Wunder des Gros-Morne-Nationalparks ist die Hochebene Tablelands. Sie besteht aus dem Gestein Peridotit, das während des Aufeinanderprallens von Erdschichten vor mehreren Hundert Milliarden Jahren aus dem Erdmantel entstand. Da Peridotit über wenige Nährstoffe für Pflanzen verfügt, erklärt sich das mondgleiche Aussehen, während der hohe Eisengehalt des Gesteins für die rötliche Farbe sorgt. „Hier blicken wir in die Seele der Erde“, erklären die Guides.
 Eine Seele, die sich auf unmarkierten Wegen erkunden lässt. Auf einem der Gipfel befindet sich ein Bergsee, der sich am Ende der langen Schlucht erklimmen lässt. Nach 300 steilen Metern erstreckt sich der Blick über das tiefblaue Wasser und die gesamte Hochebene bis zum Meer. Das Gefühl, auf der Spitze Neufundlands zu stehen, mag trügen, doch das Gefühl, dem Wunder des Gros-Morne-Nationalparks nahe gekommen zu sein, ist echt. 

Bernadette Olderdissen