Brasilien

„Und Sie sind Brasilianer?“

Talentschmiede: die Flamengo-Fußballschule in Rio de Janeiro

Talentschmiede: die Flamengo-Fußballschule in Rio de Janeiro. Foto: jm

In Rio de Janeiro auf der Spur von Brasiliens Fußballseele  

Deus é brasileiro – Gott ist Brasilianer, sagen nicht nur die Cariocas, die zwölf Millionen Einwohner von Rio. Es ist eine landesweite Redensart. Sie zeigt die unbändige Lust am Überschwang. Und das vor allem beim Fußball: Wie sonst hätte Brasilien fünfmal Weltmeister werden können?

Maracanã ist das Zuhause der brasilianischen Fußball-Seele. Der Ball, mit dem Pelé sein 1.000. Tor schoss, ist wie eine Skulptur ausgestellt. Die Fußabdrücke von 75 Fußballhelden sind wie in Hollywood in Beton gegossen. Der niedrige Spielertunnel wird bei Touristenführungen mit Zuschauerlärm beschallt, um ein Gänsehautgefühl zu erzeugen.

Das größte Stadion der Welt bietet 128.000 Plätze. Aber es ist selten voll: Die Eintrittspreise liegen durchschnittlich bei sieben Euro, enorm viel bei einem festgeschriebenen Mindestlohn von nur 100 Euro pro Monat.

Am Strand ist Fußball immer noch für alle da. Auf 30 Kilometern findet jeder Carioca seinen Platz, stellt sich zur Schau, genießt Blicke auf Körper und Können: Xavier, in Weiß, spielt gegen Copa Gallo, die Grünen. Barfuß, aber in Trikots. An der Copacabana werden die Strand- und Stadtteilmeisterschaften ausgetragen.

Xavier ist die Truppe von der Rua Xavier, der Seitenstraße am unübersehbaren Othon Palace Hotel. Maurizio Juniho, der Trainer, arbeitet als Zahnarzt und wohnt in der Rua Xavier. „Die Spieler kommen hauptsächlich aus armen Vierteln. Hier können sie ihre Spielkunst zeigen, ihr Selbstwertgefühl aufbauen, sich von den Mädchen anhimmeln lassen und ein bisschen träumen“, sagt Maurizio.

Drei Nationalspieler stammen von diesem Strandabschnitt, darunter Paulo César aus der Weltmeistermannschaft von 1970. Das macht Hoffnung, auch wenn Maurizio weiß: „Scouts sind an Spielern interessiert, die sechs bis zwölf Jahre alt sind.“ Jede Favela hat einen Sportplatz. Und an jedem dieser Sportplätze hoffen sie, dass eines Tages ein Scout auftaucht.

Jorginho, der Weltmeister von 1994, hat Bola Pra Frente in Guadalupe gegründet, der Favela in Rio, aus der er selbst stammt. Jorginhos Schule bietet nicht nur täglich zwei Stunden Fußball, sondern auch Mathematik und Informatik, Englisch und Portugiesisch. Denn weniger als ein Prozent schaffen den Sprung von der Fußballschule ins Profilager.

Sempre Flamengo – für immer Flamengo, prangt es von der Bande am vereinseigenen Stadion unterhalb des Corcovado. Arilson und Dionisio, ehemalige Flamengo-Spieler, leiten das Talentprojekt des Vereins. 4.000 junge Kicker sichten sie landesweit pro Jahr. Die Auswahlregeln sind einfach und streng: Es zählt ausschließlich die Technik. Und jeder, der mitspielen will, muss in die Schule gehen. Die Ausgewählten bekommen Essen, Unterkunft, medizinische Betreuung, schulische Unterstützung – und, wer richtig gut ist, auch Selbstvertrauen: Es gibt 13-Jährige, die eigene Fanclubs haben ...

Und Gott? Ist er nun Brasilianer? Wenn es nach dem Stellvertreter auf Erden geht, eher nein. Als Pelé bei einer Audienz Papst Benedikt vorgestellt wurde, fragte der Heilige Vater den Fußballgott naiv: „Und Sie sind also Brasilianer?“
Jochen Müssig
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