Chile

Weiß wie Schnee, rot wie Blut

Historische Gebäude und moderne Spiegeltürme: die Plaza de Armas.

Santiago de Chile: Ein Hauptstadtbesuch und eine Landpartie in die Weinregionen

Pablo Neruda, Nationaldichter und Nobelpreisträger.

Salvador-Allende-Denkmal beim Präsidentenpalast.

Pferdemädchen auf dem Weingut Casa Silva im Süden von Santiago. Fotos: pa

Beim Anflug auf Santiago de Chile wabern die Wolken so dicht zwischen Bergspitzen wie Massen aus Schnee und Eis. Wo beginnt das Land, wo hört der Himmel auf? Wo enden die menschenfeindlichen Weiten der Anden, wo fängt die Zivilisation an?

Fast sechs Millionen Menschen leben in der Hauptstadt, die sich zu Füßen der längsten Gebirgskette der Erde am Rio Mapocho niedergelassen hat. Die Hochhäuser jüngster Zeit haben Santiago de Chile den Spitznamen "Sanhatten" eingebracht. Doch die wahren Wolkenkratzer sind ein Werk der Natur: Wie ein Riesensaurier mit Schneepelz dominieren die Ausläufer der Anden die Skyline - vorausgesetzt, der Smog vernebelt nicht die Sicht. Denn wegen der Lage in einem Talkessel herrscht in der Metropole meist dicke Luft. Andererseits ist der Standort grandios: Im Umkreis von etwa 100 Kilometern sind sowohl mehrere Skigebiete erreichbar als auch Badeorte wie Vina del Mar und Valparaiso - und die weltbekannten Weinregionen.

Die Wirtschaft Chiles befindet sich im Aufschwung - und der Tourismus gedeiht prächtig mit. 2010, als das südamerikanische Land 200 Jahre Unabhängigkeit von Spanien feierte, kamen 2,8 Millionen internationale Besucher. Die Nordamerikaner zieht es vor allem zum Skifahren hierher, die anderen Nationen zum Sightseeing. Als wichtigster Quellmarkt in Europa gilt Deutschland mit 68.000 Touristen. Favorisierte Ziele sind Santiago, Puerto Montt mit deutscher Kolonialgeschichte, die Hafenstadt Valparaiso und die Atacama-Wüste.

Santiago bildet nicht nur das politische und wirtschaftliche Zentrum des Landes, sondern gibt auch den Kulturtakt vor - mit Universitäten, Museen, Theater, Galerien. Koloniale Pracht macht sich allerdings rar: Zum einen, weil Santiago mehrfach von Erdbeben geschüttelt wurde. Zum anderen, weil die Stadt erst nach der Unabhängigkeit an Bedeutung gewann. Ältestes Gebäude der Stadt ist die Kirche San Francisco aus dem 16. Jahrhundert. Direkt daneben beginnt das Viertel Paris-Londres, das mit seinen Imitationen europäischer Baustile wie eine Fingerübung auf der Architekturklaviatur erscheint. "Die Chilenen orientieren sich wirtschaftlich an den USA, aber kulturell an Europa", sagt Buchautor Thomas Schubhard aus der Nähe von Nürnberg, der seit mehreren Jahren abwechselnd in Deutschland und Chile lebt und manchmal auch Touristen führt.

Das Schöne an Santiago sind die Parks und Plätze. Eine erste Übersicht über Sanhatten bietet der Cerro San Cristobal, auf den eine Standseilbahn führt. Oben gibt es Picknickplätze, einen Zoo und eine Marienstatue, leuchtend weiß und 22 Meter hoch, mit ausgebreiteten Armen. Ein anderer Ruhepol in der Hauptstadthektik ist der Cerro Santa Lucia - der Hügel, auf dem Santiago 1541 gegründet wurde. Am Südufer des Mapocho erstreckt sich der Parque Forestal, ein schmaler Grüngürtel mit Denkmälern für Kolumbus, Johann Sebastian Bach, den Gott Pan und andere. Auf den Bänken blinzeln knittrige Greise in die Frühlingssonne. Im Gras liegen Verliebte eng umschlungen.

Ein Gemenge der Generationen und Baustile ist auch der Hauptplatz, die Plaza de Armas, umstanden von korpulenten Gebäuden. Himmelstürmende Spiegeltürme reflektieren die klassizistische Kathedrale von 1745. Im Palmenschatten haben sich Porträtmaler und Schuhputzer postiert. Anzugmänner rasten mit gelockerten Krawatten. Kinder kreisen um Pony-Attrappen, die zum Aufsteigen und Fotomachen verführen sollen. Kunststudenten bannen das Treiben auf Zeichenblöcke, die älteren Semester konsumieren es wie die tägliche Seifenoper.

Für eine Hauptstadt ist das Zentrum Santiagos überschaubar. Von der Plaza de Armas sind es nur wenige Gehminuten bis zum Mercado Central, eine kunstvolle Eisenkonstruktion aus dem 19. Jahrhundert, Schlemmerhalle für Fisch- und Früchteliebhaber mit Garküchen und Restaurants. Spezialität ist das Zerlegen von riesigen Meerestieren am Tisch, dass es nur so knackt und spritzt.

Wiederum wenige Straßen weiter befindet sich die Universidad de Chile. Die Front ist mit Plakaten verhängt. Seit Monaten herrscht hier Ausnahmezustand, die Studenten streiken für eine Bildungsreform. Der Präsidentenpalast La Moneda, ehemals Münzprägeanstalt, heute dekoriert mit Alles-ist-im-Fluss-Wasserspielen, ist nicht viel mehr als einen Steinwurf entfernt. Blutigen Ruhm erlangte der Schauplatz 1973 durch den Militärputsch Augusto Pinochets gegen Salvador Allende. Mittlerweile wurden die Schäden der Bombardierung an der Fassade beseitigt.

Das Hässliche an Santiago sind auch Betonbrocken wie das Firmengebäude der Telefongesellschaft CTC in Form eines Mobiltelefons. Geschmacksache ist das Geschäftsviertel Las Condes, ein blitzblankes Hochhausmeer der Höher-schneller-globaler-Wichtigtuerei, Sitz von Firmen und Hotelketten. Wie eine Druse mit geschliffenen Kristallen streben die Wolkenkratzer einer funkelnden Zukunft entgegen. Auf der Shopping-Meile Avenida Alonso de Cordova reihen sich Designer-Boutiquen von Armani bis Louis Vuitton aneinander.

Persönlichkeit zeigt Santiago im Künstlerviertel Bellavista zwischen dem Cerro San Cristobal und dem Fluss. Bunte Häuser von Rostrot bis Azurblau beherbergen Cafés, Kneipen, Kunsthandwerklädchen - und eine Wirkungsstätte von Pablo Neruda. La Chascona, 1953 nach den Vorstellungen des Nationaldichters gebaut, Nest für seine Liebe zu Matilde Urrutia, ist heute ein Museum prall gefüllt mit Originalstücken.

So stickig das Klima in der Stadt, so formidabel ist es außerhalb für den Weinanbau. Viel Sonne, kühle Nächte und ausreichend Wasser sorgen dafür, dass sich im Süden von Santiago weltweit anerkannte Produzenten etablieren konnten. Bereits in den Anfängen der Kolonialzeit wurden die Täler mit aus Europa eingeführten Weinstöcken kultiviert. Die Regionen fingen sich niemals die Reblaus ein, wie auf den Gütern stolz beteuert wird. Vor einigen Jahren ging ein technologischer Ruck durchs Weinland, um den Rebensaft mehr auf den internationalen Geschmack zu trimmen. Das Resultat sind fruchtige Tropfen, rot wie Blut bis lilaschwarz, mit Beerenduft und sanft im Abgang: Carmenere, Syrah, Malbec und Merlot.

Viele Weingüter stehen auch Besuchern offen - mit Kellerbesichtigungen, Verkaufsräumen, Restaurants und Boutique-Hotels. Auf der Weinroute durch das Tal von Colchagua, einst Inka-Imperium, später Reich der chilenischen Oligarchie, liegt das Weingut Casa Silva. Es beliefert 40 Länder weltweit und wird in fünfter Generation vom Silva-Clan betrieben. Oberhaupt Mario Silva sammelt Oldtimer wie Frauen Schuhe. Mehr als 50 blankpolierte Blech-Beautys sind in seinem Besitz - ein Schaustehen der Cadillacs, Peugeots und Buicks. Im Restaurant speist man mit Blick auf ehrgeizige Polo-Spieler, gelangweilte Botox-Gattinnen und niedliche Pferdemädchen. Das Hotel mit Kaminzimmer ist gemütlich wie eine Puppenstube. Vom nahe gelegenen San Fernando fährt der Weinzug (Tren del Vino) mit einer historischen Dampflok nach Santa Cruz.

Eine besondere Adresse ist auch das Weingut Matetic im Valle San Antonio, das den Anbau edler Tropfen wie eine Religion zelebriert. Die Zimmer des Hotels La Casona sind nach Rebsorten benannt, und im Restaurant werden die Weine angehimmelt wie ein seltener Zaubertrank. Bei der penibel vorbereiten Verkostung fühlt man sich wie ein Expertengremium, das sich aber nur positiv äußern darf, weil alles andere Frevel wäre. Der hohe, vornehm ausgeleuchtete Show-Weinkeller mutet fast schon sakral an - wie eine Kathedrale zu Ehren von Bacchus ... Im Labor des weitläufigen Anwesens tüfteln Önologen an immer feineren Kompositionen. Hier genießt der Mensch ein Stück Kontrollhoheit über die Natur - und der Wein-Fan die exzellenten Ergebnisse. 

Pilar Aschenbach

Infos im Internet

Fliegen: LAN Airlines fliegt täglich von Frankfurt über Madrid nach Santiago de Chile, www.lan.com
Essen: Restaurant "El Galeon" in der Markthalle, www.elgaleon.cl 
Trinken: Weingut Casa Silva www.casasilva.cl, Weingut Matetic www.matetic.com, Infos zur Weinroute und zum Weinzug unter www.rutadelvino.cl

Allgemeine Infos zu Chile unter www.chile.travel/