Japan

Unter Dämonen

Gruseln hat Tradition in Nippon, wie dieser alte Holzdruck zeigt. Foto: fh

Tokio ist voller Geister. Ein Touranbieter weiß, wo man sie suchen muss

Dass es allen Ernstes Touristen gibt, die dafür bezahlen, Oiwa zu begegnen, mag manchem Tokioter nur schwer einleuchten. Sie selbst tun alles, um genau dies zu verhindern. Denn Oiwa ist eine gefährliche Dämonin. "Onryo" werden die rachsüchtigen Gestalten genannt, deren Hass so groß ist, dass sie aus dem Jenseits zurückkehren.

Grund genug hat Oiwa allemal: Vom Ehemann, einem treulosen Schürzenjäger, vergiftet, starb die Hausfrau einen langsamen, qualvollen Tod. All dies ist zwar schon vierhundert Jahre her, für Oiwa allerdings kein Grund, ihren Groll zu begraben. Zudem kennt jedes Kind in Japan ihre Geschichte, die schon so oft als Theaterstück oder Film aufgeführt wurde, dass sie quasi zum kulturellen Erbe gehört.

Problematisch ist: Wer in einer solchen Produktion spielt, geht ein gehöriges Risiko ein. Unerklärliche Unfälle soll es während der Dreharbeiten oder Proben immer wieder gegeben haben, ja sogar Tote. Deshalb ist es mittlerweile üblich, dass bei Neuinszenierungen die Hauptakteure vor Beginn der Dreharbeiten im Oiwa-Inari-Schrein im Yotsuya-Viertel ein Opfer bringen. Tagsüber wohlgemerkt, denn abends spukt es in der Gegend rund um den Schrein.

Für Lilly Fields, die Inhaberin von Tokyo Haunted Tours (www.hauntedtokyotours.com), ist dies erst recht ein Grund, mehrfach die Woche Gruppen durch Yotsuya zu führen. Im Dunkeln natürlich.Von der Shinanomachi Station, wo sich das Dutzend Geistersucher trifft, geht es in die Unterstadt. Der erste Stopp, ein "vertikaler Friedhof", ist schon einmal beeindruckend: Beim Bau einer U-Bahn-Station mussten die Gräber eines Friedhofs in ein Hochhaus verlegt werden. Doch Geister mögen es ganz und gar nicht, wenn man sie stört. Kein Wunder, dass es hier spuken soll.

Dann geht es kreuz und quer durch kleine Gassen, immer wieder zeigt Lilly unterwegs auf Talismane neben den Haustüren, die bösen Geistern den Weg versperren sollen. Auch der Sendagaya-Tunnel liegt auf dem Weg. Taxi-Fahrer halten hier nur ungern, sollen doch wiederholt Dämoninnen eingestiegen sein. Der Tunnel verläuft direkt unter einem Friedhof, und der rege Autoverkehr an ihrem Zuhause ist den Geistern verständlicherweise auch nicht genehmer als den Lebenden.

Der Höhepunkt, besagter Oiwa-Schrein, liegt am Ende der zweistündigen Tour. Und der Besuch ist wirklich ein unheimliches Erlebnis. Auch absoluten Skeptikern läuft hier ein kleiner Schauer über den Rücken. Liegt es vielleicht daran, dass abends wirklich niemand in Yotsuya unterwegs ist? Dass vor dem Eingangstor ein kalter Hauch zu wehen scheint? Oder ist es nur Lillys blutige Schilderung der Oiwa-Geschichte?

Betreten mag niemand den Schrein. Zur Sicherheit gibt es nach der Tour eine kleine Zeremonie, die den Geist der Oiwa besänftigen soll: Eine Statue der Kannon-Bodhisattva in Kabukicho, direkt vor einem grell erleuchteten Supermarkt, soll abhelfen. Wer ihr Wasser über den Kopf gießt, besänftigt Oiwa, die als Folge der Vergiftung ständig unter quälendem Durst litt.

Für alle Fälle nimmt Lilly Fields ihren Gästen noch das Versprechen ab, eventuelle Besuche von Oiwa per E-Mail zu melden. Sie schwört: Es soll schon vorgekommen sein.
Françoise Hauser
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