Indien

Bei Mogli und Baghira

War bis vor Kurzem am Strand von Goa zu Hause und ist gerade in den Dschungel umgezogen: Arbeitselefantin Meenakshi, 54, mit ihrem Elefantenführer, dem Mahout.

Auf Safari in Südindiens wildreichsten Nationalparks

Bestaunt die Menschen mindestens so sehr wie umgekehrt: Affe in?bequemer Beobachterhaltung.

Nur auf festgelegten Pisten dürfen Besucher in den Nagarhole-Park. Fotos: hs

Meenakshi hat einen neuen Job und musste dafür nach Karnataka umziehen. Mit 54 ist das ein großer Schritt. Vorher war sie am Strand von Goa zu Hause, hat dort geduscht, sich dabei bereitwillig fotografieren und manchmal sogar anfassen lassen. Sie ist ins Meer gestiegen, am Strand auf und ab gelaufen, hat fürs Fotografieren ein paar Rupien bekommen, die immer jemand anders für sie eingesteckt hat.

Jetzt lebt die Dickhäuter-Dame als Hotel-Elefant am Kabini River weit im Binnenland des Subkontinents, duscht dort vormittags mit den Kindern der Gäste, lässt sie anschließend im Sattel Richtung Nagarhole-Nationalpark reiten – und dreht kurz vorm Dschungel wieder um.

Manchmal nur hört sie die wilden Waldelefanten rufen, leise und aus weiter Ferne, wenn der Wind das Tröten herüberträgt. Zahlreich sind sie: Hunderte, viele mehr als Tiger und Panther zusammen. Sie trampeln durchs Dickicht von Indiens wildreichstem Nationalpark, pflücken Blätter, sind von den Safari-Geländewagen aus gut zu beobachten. Genau wie die Affen, die die Autos manchmal ein Stück des Weges begleiten.

Irgendwo in diesen Wäldern wohnte Mogli mit Baghira, tanzte im Dschungel, sang auf den Lichtungen, sprach mit den Tieren der Wildnis. Vielleicht ist er hinter dem Vorhang aus Riesenbambus, aus Lianen und Laub noch immer zu Hause – und hat längst Enkel. Nur Balu der Bär ist ausgewandert. Denn Bären gibt es hier nicht mehr.

Aber Tiger sind noch da, auch über 110 Jahre nach Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“, über vierzig nach Walt Disneys Zeichentrick-Kinoversion der Abenteuer des kleinen Jungen aus dem Urwald. So viele wie kaum irgendwo anders in Indien: Etwa 80 Tiger leben im Nagarhole-Nationalpark, mehr noch in dem unzugänglicheren angrenzenden Bandipur-Nationalpark. Zwölfhundert sind es in freier Wildbahn im ganzen Land.

Von den Bäumen hängen allenthalben grüne Girlanden, bilden dichte Vorhänge, verhindern jeden Blick mehr als zehn Meter hinein in den Wald. Unmittelbar bis ans Ufer reicht die grüne Wand und verliert sich in Mangroven. An manchen Stellen sind Schilf und Bambus heruntergetrampelt, und dennoch hat noch nie ein Mensch den Boden dort betreten. Es sind die Elefanten des Waldes, die zum Trinken und Baden hierherkommen, Meenakshis fremde Verwandte. Und es sind die wenigen Panther aus Baghiras Nachkommenschaft und Shir Khans Dschungelbuch-Gesellen, die Tiger.

Der Wald ist menschenleer, denn selbst die Dschungel-Ureinwohner vom Stamm der Kuruba mussten schon vor Jahren in neue Dörfer außerhalb der Nationalparkgrenzen umsiedeln. Ihre Götter sind in den Wäldern geblieben.

Auch die Safari-Lodges für Urlauber, die gerade erst anfangen, Indien mit seinen alles in allem über 50 Nationalparks als Alternative zu den Tierparadiesen Ostafrikas wahrzunehmen, dürfen nur außerhalb der Schutzgebiete errichtet werden. Nagarhole ist mit seinen 645 Quadratkilometern fast so groß wie Hamburg, Bandipur mit 880 sogar größer.

„Tiger, Tiger!“, zischt plötzlich Wildnisführerin Dina Nisheer auf dem Beifahrersitz des offenen Geländewagens, deutet in Richtung Bambuswäldchen. Mit dem Zeigefinger auf den geschlossenen Lippen deutet sie an: Lieber mucksmäuschenstill jetzt!

Es raschelt. Dürre Äste irgendwo im Gebüsch knacken. In der Ferne rennen Hirsche davon. Ein Affe kreischt und verschwindet, die anderen werden unruhig, halten dann wieder inne. Und Momente später ist alles wie vorher. Shir Khans Nachkomme hat es sich offenbar anders überlegt und ist wieder im Wald verschwunden. „Es gehört viel Glück dazu“, sagt Dina, „wirklich einen zu sehen. Alle zwei, drei Wochen klappt es. Es sind nur achtzig Tiere, und sie sind sehr vorsichtig.“

Meenakshi sind Tiger egal. Sie hat noch nie einen gesehen. Sie will wahrscheinlich gar keinen sehen. In Goa gab es keine, und hier am neuen Arbeitsplatz sind es bloß die fremden Kumpel im Wald, auf die sie ab und zu lauscht. Sie folgt den Rufen nicht: Weil sie ihren Mahout Mohan verlassen müsste – und keine Karotten mehr zugesteckt bekäme.
Helge Sobik
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