Kanada

Labyrinth aus Meer und Fels

Fischerhäuschen auf Fogo Island.

Neufundland: Wo herzliche Menschen im Einklang mit rauer Natur leben

Unterwegs auf dem Squid Jiggers Trail. Fotos: wog

Wäsche flattert an einer Leine im warmen Atlantikwind. Dahinter reihen sich die weißen und roten Häuschen von Tilting entlang der felsigen Küste: bunte Sprenkel auf sattgrünen Wiesen rund um eine tiefblaue Meeresbucht. Das einstige Fischerdorf versteckt sich auf Fogo Island. Die Nachbarinseln westlich davon heißen Change Islands und Twillingate. Allesamt sind es raue, amphibisch wirkende Kulissen vor Neufundlands Nordostküste.

Die grüne Natur ist durch Fjorde und Buchten eng mit dem Meer verzahnt, die Eilande miteinander verbunden durch Brücken, Dämme und Autofähren. Fischerboote dümpeln in kleinen Häfen, Dörfer schmiegen sich an Meeresarme. Gewundene Sträßchen enden am Atlantik, wo Einheimische ihren Tagesfang aus Booten hieven. Das Licht ist stark, die Farben sind intensiv.

Mehr noch: Die Menschen hier sind ausgesprochen gastfreundlich – und neugierig. Außerdem sind sie hart im Nehmen: Auch wenn im Sommer mal kalter Wind und Regen über die Inselwelt fegen, laufen viele weiter in T-Shirts herum.

Zwischen Mai und Juli treiben mächtige Eisberge oft in Sichtweite vor den Eilanden vorbei. Twillingate gilt gar als „Iceberg Capital of the Word“. Im Sommer ziehen Buckelwale draußen ihre Bahnen. Eine noch recht bescheidene Touristenschar erkundet zur warmen Jahreszeit den nordischen Archipel beim Wandern und Paddeln, nutzt Zelte, Wohnmobile, einige Hotels und familiäre „Bed & Breakfast“-Pensionen zum Übernachten.

Gleich neben der Wäscheleine in Tilting auf Fogo Island beginnt der schöne Turpin’s Trail: neun Kilometer lang, klar markiert immer der Küste folgend. Das Weglein führt vorbei an Schafsweiden, Stränden und Wiesen. Tags darauf bringt eine Fähre die Fogo-Wanderer in 30 Minuten hinüber zu den beiden Change Islands. Sie gelten als noch ruhiger, noch abgeschiedener. Zu Recht. Wer dort, nahe des Nordzipfels, von der einzigen Hauptstraße rechts abbiegt und über einen Hügel fährt, erspäht bald ein pinkfarbenes Holzhaus. Es überblickt eine abgelegene, wahrlich idyllische Bucht. Dort startet und endet der nur drei Kilometer lange Squid Jiggers Trail: ein anderer famoser Wanderpfad dieser Inselwelt.

Der gut erkennbare Weg läuft unmittelbar am Meer entlang, passiert Buchten, schlängelt sich durch kleine Tannenhaine, ist immer wieder gesäumt von rosafarbenen Lorbeer-Rosen. Brücken leiten über schmale Fjorde, hölzerne Treppen klettern hinauf zu Felskanzeln. Das sind dann Rastplätze mit spektakulärem Atlantikblick.

Ein kühner Sprung ins 15 Grad warme Juli-Meerwasser wirkt beachtlich erfrischend. Während der Körper im Seewind trocknet, reicht die Sicht an klaren Tagen bis zur 15 Kilometer entfernten Landspitze Brimstone Head. Zum Abend hin sitzen dann alle zusammen im Seven Oakes Island Inn: einem restaurierten Fischhändlerhaus ganz in der Nähe, bezaubernd gelegen auf einem Hügelchen überm Ozean. Im stilvollen Speisezimmer hat Inhaberin Beulah Oake aufgetischt: panierte Kabeljauzungen und schmackhaften „Seafood Chowder“ – die beliebte dicke Fischsuppe mit Shrimps und Muscheln.

Nach dem Dinner versammeln sich die Gäste auf der Holzterrasse, schauen schweigend über Notre-Dame-Bay hinaus aufs Meer. Dort sinkt die Sonne mit ihrem letzten warmen Licht zwischen den Schären langsam in den Atlantik.
Wolfgang Gessler
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