Kanada

Die Feierabend-Riviera

Baden vor Vancouvers Skyline: Man trifft sich am Strand oder im Schwimmbad.

In Vancouver trifft man sich gern am Strand

Nur für Abgehärtete: Die Wassertemperatur erreicht selten 20 Grad. Fotos: hs

Über Spanish Banks weht die Piratenflagge. Sie flattert am Heck eines Dingis, das dort im hellen Sand auf Grund gelaufen ist, und neben der Reling sonnt sich der Kapitän an Land auf seinem Badelaken. Den Anker brauchte er nicht zu werfen. Nur die Segel hat er eingeholt.

Ein paar Stunden später wird die Flut das Dingi wieder von der Sandbank heben. Der Wind wird es die paar Kilometer zurück in den Hafen tragen, und der Pirat wird sich auf den Weg nach Hause machen und die Tür irgendeines Wolkenkratzer-Apartments hinter sich zuziehen.

Spanish Banks ist der schönste Strand der „Kanadischen Riviera“, der Pazifikküste zwischen Vancouver und Tsawwassen an der Grenze zur USA.Die kanadische Küstenwache schert sich nicht um die Beflaggung des kleinen Segelbootes. Der Dingi-Mann kommt bei schönem Wetter jeden Tag, und er ist inzwischen längst nicht mehr der einzige, der den Totenkopf statt des Ahornblattes hisst. Wer er ist? Warum er das macht? Das interessiert keinen im unkomplizierten Kanada. Hauptsache, es gefällt ihm.

Vancouvers Wassertemperaturen sind trotz der begünstigten Lage etwas für Abgehärtete: Über 17 Grad steigen sie selten, und nur in sehr warmen Sommern können es an windgeschützten Stellen mal über 20 Grad sein.

Dafür reichen ein paar Sonnenstrahlen, um die Menschen in Scharen eine Mittagspause lang oder nach Feierabend an die Stadtstrände zu locken: an die English Bay von Downtown mit den Wolkenkratzern im Rücken und an den gegenüberliegenden Kitsilano Beach.

Die Menschen sind es, die aus diesen Stränden die kanadische Riviera machen. Sie kommen, um Beachvolleyball zu spielen, treffen sich mit Freunden, bauen den Barbecue-Grill auf, ziehen sich zum Lesen hinter einen Felsvorsprung zurück oder tauchen im beheizten Swimmingpool direkt am Strand ab – alle Nationalitäten der Multikulti-Stadt durcheinander.

An manchen Abenden gehört Winken zur Strandbeschäftigung. Dann drehen die gerade ausgelaufenen Kreuzfahrtschiffe auf dem Weg nach Alaska zwei, drei Ehrenrunden durch die Bucht, weil der Blick auf den Sonnenuntergang von dort aus am schönsten ist. Die Passagiere stehen hinter der Reling, winken und rufen – und der Strand antwortet.

Bill Reed liebt die Strände so sehr, dass er seit zwanzig Jahren ehrenamtlich baden geht. „Ich brauche einen Vorwand, um jede freie Minute dort verbringen zu können“, lacht er. Der Grafiker jobbt so oft es geht als Rettungsschwimmer am Strand von English Bay – mit roter Hose, roter Jacke und einer sehr coolen Sonnenbrille. „Manchmal“, sagt er, „lässt es sich hier am Strand richtig gut flirten, aber der Aufpasser-Job geht natürlich vor.“ Er schiebt die Brille nach vorne und zwinkert mit dem linken Auge.
Helge Sobik
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