Vietnam

Auf dem Rücksitz durch Hanoi

Mobil: Stadtführerin Thuy mit ihrem Moped.

Mobil: Stadtführerin Thuy mit ihrem Moped. Foto: heu

Eine Tour auf dem Motorroller durch Vietnams Hauptstadt

Nur einen Straßenblock vom Goethe-Institut entfernt befindet sich der Eingang zum Literaturtempel, der wichtigsten Sehenswürdigkeit Hanois. Auf dem Weg dorthin finden sich kleine Restaurants, die Plastikstühle auf die Straße gestellt haben. „Hier gibt es gebratenes Schweinefleisch mit Reisnudeln, das ist sehr, sehr lecker“, versichert Thuy Nguyen. Ein komplettes Mittagessen kostet 10.000 Dong, umgerechnet etwa 50 Cent. Die junge Vietnamesin, die ein Jahr lang in Heidelberg studiert hat, arbeitet gelegentlich als Stadtführerin für Einzelreisende oder Kleingruppen – vor allem, um dabei ihre Deutschkenntnisse aufzufrischen und zu verbessern. „Der Literaturtempel“, erklärt Thuy – und hat Schwierigkeiten mit den beiden R –, „ist 1010 gegründet worden. Er war die erste Universität in Vietnam und ein heiliger Ort, an dem Konfuzius verehrt wurde. Früher haben hier nur Söhne von Kaisern, Königen und Mandarinen studiert.“ Um die Klassenunterschiede zu wahren, wurde jeder Durchgang dreifach gebaut – ein Tor in der Mitte, das Kaiser und Könige nutzten, und zwei Tore seitlich für das einfache Volk. Für viele Vietnamesen ist der Literaturtempel auch heute noch heiliger Ort. Schüler und Studenten kommen hierher und beten für Glück und Erfolg bei den Prüfungen. Nach dem Besuch im Literaturtempel holt Thuy ihren Motorroller. Keine Honda, keine Yamaha, sondern eine in Taiwan konstruierte, aber in Vietnam gebaute SYM. Wenn Thuy Einzelreisende führt, platziert sie die Besucher kurzerhand auf dem Rücksitz. Die Fahrt ist nichts für schwache Nerven, denn der Verkehr in Hanoi entzieht sich sämtlichen Regeln. Vor Jahren dominierten hier noch die Fahrräder, doch das ist lange vorbei. „Jede Familie hat mindestens ein Motorrad, die meisten zwei, manche sogar fünf“, erzählt die Stadtführerin. Und schon brausen wir los. Der erste Stopp: Die Ein-Säulen-Pagode. „Kaiser Ly Thai To, der sehr traurig war, weil er keinen Sohn hatte, sah im Traum die Göttin der Barmherzigkeit. Sie hielt ein Kind im Arm und überreichte es ihm. Ein paar Monate später ist die Königin schwanger geworden“, berichtet Thuy. Um der Göttin zu danken, ließ der Kaiser die Pagode bauen. Gleich nebenan steht das monumentale Mausoleum für den 1969 verstorbenen Revolutionsführer Ho Chi Minh. Für die Vietnamesen hat der Ahnenkult eine große Bedeutung. Das sehen wir auch an unserer nächsten Station: dem Westsee, dem größten See in der Hanoier Innenstadt. Auf der kleinen, über einen Steg erreichbaren Goldfischinsel steigt vor der Tran-Quoc-Pagode dunkler Rauch gen Himmel, hier brennt gerade eine Opfergabe für die Ahnen. „Die Vietnamesen glauben, dass die Verstorbenen in einer anderen Welt weiterleben. Dort benutzen sie die gleichen Dinge wie die Lebenden, zum Beispiel Handys, Computer oder Motorräder“, erläutert Thuy. Ein Vietnamese ohne Motorroller – das gibt es nicht einmal mehr im Jenseits.
Rainer Heubeck
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