Japan

Spiel mir das Lied von der Schlucht

Bis zu 100 Meter hoch sind die Felswände in der „Löwennasen-Schlucht“. Foto: fh

Japan: Eine Floßfahrt auf dem Geibikei offeriert einen ganz eigenen Einblick in das Reiseland

Gäbe es zum Dorf Geibikei einen Untertitel, es wäre „Dornröschenschlaf“. Hin und wieder spuckt der Bummelzug aus Ichinoseki eine Familie mit Rucksack oder eine Gruppe wandernder Senioren aus, rauscht ein Touristenbus über die Hauptstraße, dann wird es wieder still zwischen den Holzhäusern und Blumengärten. Nur der Imbiss Tonkatsu brutzelt lautstark an der größten Kreuzung im Ort und pustet mit jedem Türöffnen leckere, fettgetränkte Duftwolken auf die Straße.

Einsamkeit ist in Geibikei Programm – hier kommt man nicht zufällig vorbei, denn das Dorf liegt weit oben auf der Hauptinsel Honshu, in der Präfektur Iwate, dort, wo westliche Touristen echten Seltenheitswert haben. Dass sich dennoch ein reger (japanischer) Tourismus entwickelt hat, verdankt der abgelegene Ort der gleichnamigen Löwennasen-Schlucht: Über Jahrtausende hat sich hier der Satetsu-Fluss in die Kalkfelsen gegraben und über viele Kilometer bis zu 100 Meter hohe, zerfurchte Felswände hinterlassen.

Von den meisten europäischen Reiseführern übersehen, hat die Geibikei-Schlucht das Zeug zu einer echten Attraktion. Kein Reklameschild, kein Autolärm, kein modernes Haus stört die einsame Landschaft des Satetsu. Dafür gleiten jede Stunde fast lautlos hölzerne Flöße vorbei, die die Touristen durch die rauen Schluchten staken.

An Bord heißt es Schuhe aus und hoffen, dass der Meniskus mitspielt: Kniend, inmitten der Ausflugsgruppe einer Exportfirma aus Sendai, geht es durch die steilen Schluchten. Immer wieder geht ein leises Oh! und Ah! durch die Menge. Was im Herbst besonders andächtig ausfällt: Knallrot und quietschgelb wird das Laub der Zelkovenbäume und des Efeus dann – Japaner lieben diese Farbexplosion. Die fetten Fische im Fluss schlagen derweil ungeduldig mit der Schwanzflosse, schließlich tragen die Reisenden alle eine dicke Tüte Brotkrumen mit sich.

90 Minuten dauert die erholsame Tour über den Fluss, inklusive kleinem Landabstecher unterwegs. Kurz vor Ende atmet der Bootsführer tief ein und schmettert das Volkslied „Geibi Oiwake“ in die Schlucht. Ja, das ist kitschig, aber ehrlich gesagt auch ziemlich ergreifend. 30 Japaner und eine Ausländerin legen andächtig den Kopf in den Nacken und schließen die Augen, bis die letzte Note lange verklungen ist.
Françoise Hauser
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