Türkei

Kultureller Wonneproppen

Stadt zwischen zwei Kontinenten: Blick vom Bosporus auf den europäischen Teil Istanbuls.

Istanbul-Besucher sollten nicht den Fehler begehen, sich zu viel vorzunehmen

Das „Istanbul Modern“, ein Museum für zeitgenössische Kunst. Fotos: pa

Östlichste Mega-City Europas und westlichste Metropole des Orients: Als Spagat-Stadt zwischen Europa und Asien ist Istanbul seit jeher ein brodelnder Kessel der Kulturen. Byzanz, Konstantinopel, Istanbul hat alle begehrten Werbetitel in der Tasche: Unesco-Welterbe, Kulturhauptstadt 2010.

Fürwahr platzt der kulturelle Wonneproppen aus allen Nähten. Monströse Monumente wie der Topkapi-Palast, die füllige Hagia Sophia und die Blaue Moschee mit Minarett-Sextett einerseits. Wolkenkratzende Neubauten, moderne Museen und labyrinthische Basare andererseits. Dazwischen wuchern Szeneviertel wie Hefepilze. „Istanbul ist das größte Museum der Welt“, eröffnet Reiseleiter Oktay mit weltstädtischem Selbstbewusstsein das Sightseeing-Programm.

„Stadt zwischen zwei Kontinenten“ lautet das ambitionierte Thema für die bevölkerungsreichste Metropole der Türkei. Der Brückenschlag beginnt im „Istanbul Modern“ auf dem europäischen Teil. Das Museum wurde 2004 in einer ehemaligen Lagerhalle am alten Hafen eröffnet und präsentiert abstrakte Kunst ebenso wie konkrete: ein Klavierflügel hängt in den Seilen, in einer Videoinstallation schlängeln sich Bäume wie Gogo-Tänzerinnen, satte Ölgemälde konservieren Bosporus-Idylle.

Mit einer Fähre geht es zu einer Kontraststation über den Bosporus: dem Beylerbeyi-Palast direkt am Wasser. Vier Tonnen Gold sollen in dem Prunkbau aus dem 19. Jahrhundert verbraucht worden sein, Synthese barocker und osmanischer Baukunst, Sommerresidenz von Sultan Abdülaziz, dessen Amtszeit mit Staatsbankrott und Ermordung endete. Von den repräsentativen Mittelhöfen streben lange Zimmerfluchten: viel Teppich, Stofftapete und Originalmobiliar.

Vor dem Palast posiert ein Brautpaar für das Schönste-Tag-im-Leben-Foto. Im Hintergrund ein historischer Mauerbogen und ein grauer Betonstreifen, die erste Bosporus-Brücke, des nachts illuminiert wie ein Jahrmarkt-Fahrgeschäft. Über diese Brücke führt der Weg zurück – und das dauert: Stau.

Rund 3,5 Millionen Menschen wechseln täglich zur Arbeit vom asiatischen auf den europäischen Teil. „Das wäre so, als ob sich Berlin morgens leert und abends wieder füllt“, sagt Tourguide Oktay. Die Masse fädelt sich durch zwei Brücken-Nadelöhre. Auf der ersten Brücke variiert die Anzahl der Spuren mit dem Verkehrsfluss: Morgens wird der Hahn nach Europa aufgedreht, abends Richtung Asien. Zur Entschärfung des Verkehrsproblems entsteht ein Tunnel unter dem Bosporus.

Doch die Blechlawinen stehen auch andernorts Schlange: Auf 13 Millionen Einwohner kommen „26.000 Busse, 18.000 Taxis und 2,8 Millionen Autos“, rechnet Oktay vor. Wer sich nicht auf Spaziergänge durch das touristische Herzstück Istanbuls, das Sultanahmet-Viertel, beschränken will, kommt um das Chaos nicht herum.

Dabei gibt es auch um den Sultanahmet-Platz herum viel zu tun – zum Beispiel den Jahrtausendsprung von der Hagia Sophia aus dem 6. Jahrhundert zur Blauen Moschee aus dem 17. Jahrhundert.

Istanbul-Reisende sollten nicht den Fehler begehen, sich zu viel vorzunehmen. Den großen bunten Kuchen, durch das Kulturhauptstadtjahr mit zusätzlichen Sahnehäubchen verziert, kann man nur in Häppchen ernsthaft erkunden – nicht als eilige Grätsche zwischen Kontinenten.

Besser kommt man wieder. Und besser ackert man sich nicht durch Must-see-Listen, sondern lässt sich treiben: von den Anglern am Bosporus in imponierende Denkmäler in Straßen-Cafés in das wummernde Nachtleben.
Pilar Aschenbach
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