Deutschland

Wo der Fluss die Biege macht

Blick von der Schönen Aussicht hinunter auf Wasserburgs Altstadt.

Oberbayern: Die historische Altstadt von Wasserburg am Inn

Licht- und Schattenspiel in der Frauengasse im Altstadtzentrum. Fotos: wog

Wenn der morgendliche Nebel über dem Inntal zur Sonne aufsteigt, dann geht der Vorhang auf für ein architektonisches Schauspiel: Die Häuserfront der Wasserburger Altstadt schält sich aus dem Grau, spiegelt sich in den Fluten des Flusses, erhebt sich majestätisch an seinem Ufer. Der Burghügel und die wuchtige Pfarrkirche St. Jakob dominieren die Silhouette eines mittelalterlichen Stadtkerns, der in Gänze unter Denkmalschutz steht. Eine Altstadt in spektakulärer Lage: wie auf einer Insel, fast gänzlich umströmt von den Wassern des Inns.

Denn hier, 55 Kilometer östlich von München, zwangen mächtige, eiszeitliche Moränen-Rücken den Fluss zu einem erstaunlichen Richtungswechsel. Der Strom fließt in einer scharfen 180-Grad-Kurve, schnürt dabei die 1.000 Meter lange Altstadt-Fläche wie einen Tropfen vom Umland ab. Nur ein nach Westen ragender 200 Meter breiter Flaschenhals blieb als natürlicher Zugang nach Alt-Wasserburg übrig.

Zusätzlich überspannt seit Jahrhunderten die Rote Brücke den 110 Meter breiten Inn von Süden her. Zu ihren Füßen, gegenüber der Altstadt, legt auch das Ausflugsboot ab – wohl eine der besten Möglichkeiten, um die historische Wasserburger Innfront genüsslich an sich vorbeiziehen zu lassen.

Wer über die Rote Brücke spaziert, gelangt durch das mächtige Brucktor verblüffend schnell ins Altstadt-Herz, blickt staunend aufs bunt-karierte Gewandhaus und bummelt durch die langen Arkaden-Gänge am Marienplatz. Von diesen schattigen Fluchten zweigen Gewölbe ab, in denen Wein, Obst, Gemüse und Korbwaren feilgeboten werden. Schräg gegenüber den Arkaden hocken gut gelaunte Menschen schon im Freien und gönnen sich beim „Stechl Keller“ nahe der Frauenkirche einen Milchkaffee.

Beim Bummel übers Kopfsteinpflaster wird klar, warum Besucher dieses 12.000-Einwohner-Städtchen so schnell ins Herz schließen. Denn sie mögen die dicht gestaffelten Fassaden entlang der Herrengasse oder die in der baumbestandenen Ledererzeile, deren Rostbraun und Pastellgrün, deren Himmelblau, Ocker und Zitronengelb das Auge erfreuen. Sie schätzen den kleinen Bauernmarkt, immer donnerstags in der Hofstatt, einem gemütlichen Plätzchen umgeben von efeuberankten Häuserwänden. Sie bestaunen die Keramik und die antiken Möbel der kleinen Geschäfte, und sie genießen die beschauliche Ruhe im Weberzipfel, einem Sträßchen unterhalb des Burghügels.

Wenn zum Abend dann die Sonne auf den Horizont hinabsinkt, führt ein lohnender Weg über die Rote Brücke auf die andere Seite des Flusses. Dann von dort in 15 Minuten das bewaldete Steilufer mehr als 60 Höhenmeter hinauf – auf den Kellerberg.

„Schöne Aussicht“ heißt dieser Ort. Denn der Tiefblick hinüber auf die Altstadt ist famos. Unten, am gegenüberliegenden Ufer des glänzenden Inn-Bandes, heischen die stolzen Häuserfronten und die Kirchturmspitzen jetzt nach dem letzten Sonnenlicht. Bald wird dieses mittelalterliche Ritter-Szenario wieder hinter den Nebeln des Flusses verschwinden. Und der Vorhang sich schließen.
Wolfgang Gessler
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