Spanien

Die Wände hochgehen

Bis unser Autor so weit ist, muss er noch ein bisschen üben. Foto: Martin Cyris

Die Sierra de Guara in den spanischen Pyrenäen ist ein Kletter-Hotspot

"Keine Sorge, ich klemm' dir schon nichts ab!" Miguel lacht und zieht den Klettergurt extra straff. Lockerheit ist zwar erwünscht - aber lediglich im Gemüt, nicht an der Ausrüstung. Miguel muss es wissen, er ist Kletter-Guide.

Ich bin ein mäßig guter Kraxler, der zwar die Kletterwand in der heimischen Turnhalle wie im Schlaf bezwingt, aber sich bislang noch nicht an höhere Schwierigkeitsstufen herangewagt hat. Erst recht nicht im Freien. Da ist Orientierungshilfe angesagt. Als Neuankömmling verliert man in der Sierra de Guara schnell den Überblick, schließlich gibt es unzählige Wände, die bezwungen werden wollen.

Die Gegend um Rodellar in den spanischen Pyrenäen gilt als Eldorado unter Kletter-Freaks, vor allem für Fortgeschrittene. Felsen und Schluchten sind optisch ein Leckerbissen und ihre Namen durchaus poetisch. So heißen die Reviere beispielsweise "Die Fenster von Mascun" und "Kleines Paradies".

Mit einem Gefühls-Cocktail aus Abenteuerlust und Respekt stehe ich am Felsabsatz. Ein Geier kreist hoch über unseren Köpfen - ich hoffe aus purem Zufall. Aber der Klettergurt ist meine Lebensversicherung. Um die Hüften geschnallt, sorgt er im Ernstfall dafür, dass ich "ins Seil" und nicht etwa in die Tiefe falle. Nachdem mir Miguel kurz die Besonderheiten der Route erklärt hat, werde ich auf den Fels losgelassen.

Auf den ersten Metern stelle ich mich ganz passabel an, trittsicher gehe ich die Wand hoch, die richtige Verlagerung des Körpergewichts klappt wie in der Kletterhalle. Aber in einer Höhe von etwa acht Metern werden nicht nur meine Arme immer länger, sondern auch meine Knie immer weicher. Acht Meter im nackten Fels können verflixt hoch sein. Erst recht, wenn die Kräfte nachlassen.

Ich teile Miguel meine Entscheidung mit, abzubrechen. Unten angekommen, atme ich erst einmal tief durch. Ich bin nicht unzufrieden, denn das war ja erst der Anfang. Morgen werde ich einen neuen Anlauf starten.

Die Sierra de Guara gehört zu den südlichsten Ausläufern der Pyrenäen. Um die Kalksteinfelsen zu erklimmen, kommen Kletterer aus aller Welt, vor allem nach Rodellar. An den Wochenenden ist mächtig was los, an nahezu jedem Felsen klebt ein Freeclimber. Hier und da hallen Schreie aus den Wänden. Freudenschreie, aber auch Bekundungen körperlicher Anstrengung. "Vamos!" oder "Venga!" motivieren sich die Kletterer gegenseitig.

"Auf geht's!" - "Komm schon!""Vamos!" lautet die Parole auch am Abend - dann wird in den Bars und Cafés gefeiert. Vom Frühjahr bis zum Herbst geht es in Rodellar recht lebhaft zu. Die beiden Camping-Plätze sind ebenfalls gut besucht. Mountainbiker, Wanderer und Canyoning-Sportler mischen sich unters Klettervolk, denn die Sierra de Guara ist mit ihren beeindruckenden Schluchten auch für zahlreiche andere Freizeitaktivitäten geeignet. Insbesondere das Canyoning zieht viele Besucher an.

Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man Rodellar übrigens fast dichtgemacht. Keine Seltenheit in den Pyrenäen, wo Dutzende Weiler verlassen daliegen. Auch in Rodellar harrte vorübergehend nur noch eine einzige Familie aus. Mittlerweile meldet das hübsche Bergdorf wieder volles Haus - als Hotspot der Kletterszene.
Martin Cyris
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