Spanien

Zum Anbeißen schön

Toledo vom anderen Ufer des Tajo.

Hinter den wehrhaften Mauern von Toledo verbergen sich kostbare Kulturschätze – und feinste Marzipankonfiserien

Shopping-Paradies für Freizeitritter.

Wuchtige Pracht: die Kathedrale.

Monument aus Marzipan. Fotos: pa

Dicke Steine, ein massives Holztor und eine reich verzierte Fassade: Was aussieht wie ein wuchtiges Monument von Toledo, ist in Wirklichkeit zum Anbeißen schön. Das meterhohe Kunstwerk ziert das Schaufenster der Traditionskonfiserie Santo Tome - und ist vom Giebel bis zum Fundament aus feinstem Marzipan gefertigt.

Wer sich der Hauptstadt der autonomen Region Kastilien-La Mancha im Herzen Spaniens nähert, wird diese süße Weichheit kaum vermuten. Wehrhafte Mauern schützen die Altstadt, zu deren Füßen in einem eleganten Bogen der Tajo fließt. Vier Brücken und drei Stadttore bilden Nadelöhre in die Unesco-Welterbe-Schatzkammer, die aber nicht nur ein großes Museum ist: Mehr als ein Fünftel der 80.000 Einwohner Toledos leben in diesem verschachtelten Stadtteil.

Viele Epochen und Weltanschauungen haben ihre Spuren hinterlassen. "Toledo ist die Stadt der drei Kulturen und der Toleranz", sagt Touristenführerin Maria Gonzales, eine kleine Frau mit Hut und großen Gesten. "Jahrhundertelang haben hier Juden, Mauren und Christen harmonisch zusammengelebt." Maria scheint das wirre Gassengezweig wie ihre Westentasche zu kennen und niemals ohne Orientierung zu sein. Zielsicher geleitet sie ihre Schäfchen zu den wichtigsten Monumenten der Stadt - ein Zickzackkurs durch enge Straßen und über kleine und größere Plätze, eine Reise wie mit der Zeitmaschine.

Dort die schmucke Fassade der Moschee Cristo de la Luz aus dem 10. Jahrhundert, die mittlerweile eine Kirche ist, dann die mittelalterliche Synagoge Santa Maria la Blanca im jüdischen Viertel, danach die Kirche San Vicente, die sich mit Konzerten und Disco als Pilgerstätte für Party-Jünger empfiehlt. Das Gebäude repräsentiert den Mudejar-Stil, der von den Mauren während der Herrschaft der Christen entwickelt wurde und Elemente der islamischen Architektur mit denen der Gotik und Renaissance verquickt. So weit, man hätte es ja gerne geglaubt, war es mit der Toleranz in Toledo dann doch nicht her, dass jede Kultur schalten und walten durfte, wie sie wollte. Nicht ins Harmoniebild passen auch die Ketten an den Außenwänden des Franziskanerklosters San Juan de los Reyes, getragen von christlichen Sklaven während maurischer Gefangenschaft.

Ein weiterer Hammer ist die Kathedrale Santa Maria, gotisch, gewaltig groß und Wahrzeichen der Stadt. Fünf Kirchenschiffe mit 88 Säulen und prächtigen Buntglasfenstern überspannen einen Chor mit geschnitzten Szenen von der Eroberung Granadas, einen gigantischen, blendend goldenen Hochaltar mit Heerscharen von Figuren und die Schatzkammer mit der Monstranz aus dem 16. Jahrhundert, eine gold-silberne Wucht mit Diamantkreuz, einmal im Jahr aus dem Schaufenster befreit für Toledos berühmte Fronleichnam-Prozession. Nicht zu vergessen die Sakristei mit großrahmigen Gemälden von El Greco, Goya und Tizian, um nur einige Namen zu nennen.

Toledos architektonischer Mischmasch ist entstanden, weil die Mauern nicht viel genutzt haben. Erst kamen die Römer, dann marschierten die Westgoten ein, dann die Mauren (vermutlich mit dem Marzipan-Rezept im Gepäck), dann die Christen. 1936 wurde der Alcazar von Toledo auch noch Schauplatz des Spanischen Bürgerkriegs. Mehrere Hunderte Rebellen hatten sich gegen die republikanischen Milizen in der Festung verbarrikadiert, angeführt von General Jose Moscardo, der mit franquistischen Truppen gemeinsame Sache machte und einem schrecklichen Massaker an republikanischen Kämpfern und Zivilisten Vorschub leistete. 

Heute zahlt die Stadt den Preis für ihre bauliche Schönheit: Touristen lieben die Kulturperle und kommen in Scharen. Tapas-Bars und Spezialitätenläden locken mit allerlei Leckereien - Wurst, Oliven, Käse, Wein, Safran und Marzipan. Auch Freizeitritter erhalten alles, was das Herz begehrt: Visiere, Schilde, ganze Rüstungen und Waffen. Wie eiserne Blumensträuße stehen kleine und große Schwerter in den Auslagen der Souvenir-Shops, die Auswahl reicht vom Modell Julius Cäsar über Dschingis Khan bis Napoleon. Denn Toledo ist nicht nur eine Hochburg für Marzipan, sondern auch für die Stahlproduktion. Das Wasser des Tajo, heißt es, härtet besonders gut.

"Bei uns wurden auch die Schwerter für die Herr-der-Ringe-Filme geschmiedet", berichtet Maria stolz. "Und ,Die drei Musketiere' sind hier verfilmt worden", sagt die Spanierin und fuchtelt mit einem imaginären Degen in der Luft herum. Wer seine neue Rittermontur gleich ausprobieren will, kann in Toledo auf die Don-Quijote-Route starten. Allerdings, ganz stilecht wäre das nicht: Der "Ritter von der traurigen Gestalt" besaß nur eine altersschwache, rostige Rüstung, keine glänzende, protzige.

An diesem Nachmittag im November ist es still in den Gassen von Toledo, denn mit den Temperaturen gehen auch die Besucherzahlen zurück. Und so kann man in aller Ruhe das Angebot der Konfiserie Santo Tome studieren, die sich schon in fünfter Generation der Marzipanherstellung widmet. Zu kleinen Laiben, Halbmonden, Zöpfen und Früchten geformt, pur oder mit Pinienkernen dekoriert, mandelweiß oder gefärbt wird die süße Masse in adretten Tütchen und Päckchen präsentiert. "Das Lübecker Marzipan ist noch edler", meint Maria ganz unpatriotisch. Mehr Mandeln, weniger Zucker, darin bestehe der Unterschied. Das allein ist es aber nicht: In das "Mazapan de Toledo" kommt kein Rosenwasser und vor dem Backen wird es mit Eigelb bepinselt. Es ist saftiger als die norddeutsche Variante und selten mit Schokolade überzogen. Doch wie auch immer: Einmal genossen, möchte man die köstlichen Kalorienklößchen nicht mehr missen und deckt sich noch für spätere Hungersnöte mit ein paar Schachteln ein.

Nach dieser Energiezufuhr ist man gut gestärkt für den Besuch des El-Greco-Museums am Rande des jüdischen Viertels. Das kühle Design des Entrees lässt ein modernes Gebäude vermuten, doch weit gefehlt. Die Ausstellung zu Ehren des kretischen Malers befindet sich in einem behutsam restaurierten Wohnhaus aus dem 16. Jahrhundert mit Innenhof, umgeben von einem Garten. Über sechs Millionen Euro ließ sich das Kultusministerium den mehrjährigen Umbau der Galerie kosten, die erst seit einigen Monaten wieder geöffnet ist. Zu Lebzeiten hielt sich die Begeisterung für El Greco allerdings in Grenzen: Dessen Vorliebe für die Verfremdung religiöser Themen und die Darstellung anatomischer Abnormitäten traf nicht den Geschmack und endete in einem Skandal.

Tatsächlich wirkt die 100 Werke umfassende Gemäldesammlung auf den ersten Blick arglos - Porträts, Landschaften, die Heilige Familie, gefällige, teilweise fast kitschige Farben -, dann aber wie ein Gruselkabinett: viele leichenblasse Gesichter, asymmetrische Augen, leidvoll verzogene Münder, Totenschädel, Knochenreste. "El Greco hat nicht realistisch gemalt, sondern interpretierend", sagt Maria. Quellen seiner Inspiration seien Krankenhäuser und die städtische Irrenanstalt gewesen. In einigen Bildern kommen aber auch andere Einflüsse zum Ausdruck. Bevor El Greco nach Toledo kam, weilte er bei Tizian in Venedig und bei Michelangelo in Rom.

In Toledo werden Traditionen mit Hingabe gepflegt, bisweilen aber auch nonchalant durchkreuzt. Schon El Greco setzte sich mit seinen Bildern über Konventionen hinweg, gleichwohl er damit so manchen Auftraggeber auf die Palme brachte. Heute gibt es zahlreiche Beispiele für die gelungene Kombination von Alt und Neu: trendige Bars in greisen Gemäuern, stilvolle Boutique-Hotels in ehemaligen Handwerksbetrieben, die Disco im Gotteshaus. Mit ihrem kulturhistorischen Reichtum ist die Stadt ohnehin schon hinreißend, aber diese Kreationen machen sie erst recht charmant. Noch lieber würde man sie mögen, wenn sie offener zum Hergang ihrer Vielfalt stünde, anstatt sie per Friedensetikett zu frisieren. 


Pilar Aschenbach

 

Toledo-Tipps für ...

... Schleckermäuler: Marzipankonfiserie Santo Tome, www.mazapan.com
... Nachtschwärmer: Circulo de Arte in der Kirche San Vicente,
    www.circuloartetoledo.org 
... Kunstliebhaber: Museo del Greco, http://museodelgreco.mcu.es 
... Boutique-Hotel-Fans: Hotel Pintor el Greco in einer ehemaligen Bäckerei, 
    www.hotelpintorelgreco.com 
    Allgemeine Infos zu Toledo stehen unter www.toledo-turismo.com.

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