Deutschland

Vom bösen Buben zum Goldjungen

Mekka für Marzipan-Fans: die Cafés von Niederegger.

Lübeck: Auf den Spuren von Thomas Mann durch das Marzipan-Mekka

Einst Musikdramaturg, heute Stadtführer: Karsten Bartels.

Besuchermagnet: das Buddenbrookhaus.

Exponat im Willy-Brandt-Haus. Fotos: pa, LTM

Wer im Café Niederegger gegenüber dem Lübecker Rathaus die "Buddenbrooks" aufschlägt, erlebt eine süße Überraschung. Statt der nobelpreisgekrönten Familiensaga von Thomas Mann versteckt sich hinter dem grünen Einband mit goldenen Lettern ... edles Marzipan. Eine Attrappe! Welch arglistige Täuschung des kulturbeflissenen Touristen, der sich fest vorgenommen hatte, um das Reich des deutschen Marzipankönigs einen Bogen zu schlagen, dann doch einen kurzen Blick riskierte, man will ja nichts verpassen. Die Verkaufsschlager aus der Niederegger-Kollektion, Kartoffeln, Brote und Marzipanschokolade, kann man mittlerweile in mehr als 40 Ländern weltweit erstehen. Auf den Spuren des literarischen Zeitgemäldes zu wandeln - das geht dagegen nur hier. Und jetzt diese ausgebuffte Verführung, die folgenschwer endet: mit einem dicken Stück Nusstorte im Marzipanmantel.

Andererseits ist eine anständige Stärkung vor dem Rundgang "Nobelpreisträger" auch angebracht, denn von diesen hat Lübeck gleich drei zu bieten: Thomas Mann und Willy Brandt erblickten in der Hansestadt das Licht der Welt, und Günter Grass erklärte Lübeck vor mehreren Jahrzehnten zu seiner Schaffensstätte. Allen wurden Museen gewidmet, zu finden auf der Altstadtinsel zwischen Trave und Wakenitz, dem mittelalterlichen Stadtkern Lübecks voller Juwelen der Backsteingotik, dekorativen Patrizierhäusern und gemütlichen Gassen, Unesco-Weltkulturerbe seit 1987.

Die Buddenbrooks als Verpackung des Niederegger-Naschwerks, dem "heimlichen Wahrzeichen" Lübecks - früher wäre diese Marketing-Liaison undenkbar gewesen. Denn als der Gesellschaftsroman 1901 erschien, verfasst von einem gerade mal 26-Jährigen, war die Stadt zutiefst empört. Manch ehrbarer Kaufmann fand sich darin wieder - und nicht eben vorteilhaft repräsentiert. Skandal im Marzipanparadies, damals vor allem eine Hansestadt im Niedergang. Es kursierten Listen, wer denn wer sei von den Buddenbrook-Gestalten.

Der Autor galt fortan als Nestbeschmutzer. Zwar erwähnt er die Stadt niemals namentlich, sondern nur einen "mäßigen Handelsplatz an der Ostsee", dafür aber zahlreiche Lübecker Schauplätze: das Holstentor, das Rathaus, die Marienkirche und das Katharineum, wo Hanno Buddenbrook eine ebenso unrühmliche Schulzeit absolviert wie sein Erschaffer. Es sollte noch geraume Zeit dauern, bis sich die Schmäh in Stolz verwandelte, bis der Dichter vom bösen Buben zum Goldjungen avancierte. Erst wenige Monate vor seinem Tod 1955 wurde Thomas Mann die Ehrenbürgerschaft zuteil, und wiederum erst Anfang der 1990er Jahre zündete die Initiative für ein Literaturmuseum im Buddenbrookhaus.

Auf dieses steuert mit strammem Schritt Karsten Bartels zu. Seit zehn Jahren zeigt der weißbärtige Lübecker, zuvor Musikdramaturg am Theater, Touristen seine Stadt. Man habe ein volles Programm, gemahnt er die Gruppe, die immer wieder ins Schlendern und Staunen verfällt: vor den geschwungenen Rokoko-Giebeln in Hochzeitstortenfarben, weiß, creme, rosé. Vor den spätgotischen Treppenfassaden, die wie der Einstieg zur Himmelspforte erscheinen, gewiss aber ein Zeugnis von Lübecks Karrierehöhepunkt als "Königin der Hanse" sind.

Und dann der Rathausplatz, Ensemble unfassbaren Formenreichtums - Arkaden, Giebel, Bögen, spitze Türme, schwarz-glasierte Ziegel, strahlend weiße Fassaden, gediegenes Backsteinrot. Und dann die vielen kleinen Gänge und Höfe mit ihrer Puppenhaus-Atmosphäre aus treuherzigen Häuschen und romantischen Pflanzen-Arrangements - zu einmalig, um ignoriert zu werden. Heute lassen sich die Heile-Welt-Refugien als Feriendomizil anmieten. Einst schlüpften hier in winzigen "Buden" die Ärmsten der Armen unter.

"Für das Buddenbrookhaus sollte man sich schon einen halben Tag Zeit nehmen", empfiehlt Lübeck-Kenner Bartels. Und das ist nicht übertrieben. Das Gebäude in der Mengstraße 4, das den Großeltern Thomas Manns gehörte und einen zentralen Handlungsort in den Buddenbrooks darstellt, hält jede Menge Informationen über das Werk bereit - und nicht nur die. Dort, wo die Romanfamilie die "Beletage" bewohnte, befinden sich das "Speisezimmer mit den Götterfiguren" und das "Landschaftszimmer" - voll ausstaffiert mit brokatbezogenen Stühlen, Harmonium, einem "Lübeckischen Anzeiger" von 1891 und Bildertapeten, über die es in den Buddenbrooks so lieblich heißt: "Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die reinliche Lämmer am spiegelnden Wasser im Schoße hielten oder sich zärtlich mit Schäfern küssten."

"Begehbare Literatur" will das Buddenbrookhaus bieten. Zur Vervollkommnung der Illusion ertönt der Klang von Hufgetrappel auf Kopfsteinpflaster. Beim Blick auf die Marienkirche gegenüber und hinunter auf die Straße fällt es jetzt nicht mehr schwer, sich ins Lübeck des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu versetzen: Kutschen mit schnaubenden Braunen statt Autos; Männer mit Gehröcken und Spazierstöcken statt Schlabberhosen und Laptop-Taschen; Frauen in fließenden Rüschenkleidern statt Wurstpellejeans.

Vor vier Jahren liefen einige Lübecker tatsächlich geschniegelt wie anno dazumal herum - als Statisten in der jüngsten von vier Buddenbrooks-Verfilmungen. Aufruhr im Marzipanparadies! Für die opulente Inszenierung von Heinrich Breloer mit Star-Besetzung - Iris Berben, Armin Müller-Stahl, Jessica Schwarz - wurden Verkehrsschilder abgeschweißt, Kopfsteinpflaster aus Kunststoff ausgerollt, Backsteinblenden installiert, alle Zeichen der Zeit getilgt - für eine Geschichte, die doch vom Wesen her zeitlos ist. Die Geschichte einer Familie, die am Konflikt zwischen geschäftlichen Interessen und dem Streben nach persönlichem Glück zerbricht, am Ringkampf von Neigung und Pflicht. Natürlich schmeckte der "Verfall einer Familie", wie der Buddenbrooks-Untertitel verkündet, der gerade vom Thron stürzenden Hanse-Königin nicht.

Bartels bläst zum Aufbruch und meint noch, dass Thomas Mann mit seinem Zauberberg eigentlich auch den Nobelpreis in Medizin verdient hätte: "Nichts hat er so virtuos beschrieben wie Krankheiten." Nächste Station ist die Glockengießerstraße. Dort huldigt das Günter-Grass-Haus dem zweiten Literaturnobelpreisträger der Stadt. Das Museum, das vor zehn Jahren zum 75. Geburtstag des Schriftstellers, Grafikers und Bildhauers eröffnet wurde, begreift sich als Ausstellungs- und Forschungsstätte für "künstlerische Mehrfachbegabungen und mediale Grenzüberschreitungen". Klein, aber fein, präsentiert es eine Auswahl aus dem bildkünstlerischen Oeuvre - Zeichnungen, Radierungen, Lithographien - und die neueren Manuskripte seit 1995. Im oberen Stockwerk ist Raum für Sonderausstellen, momentan geht es um "Jugendgefährdende Schriften". Den Museumsrahmen bilden ein Skulpturenhof und ein Garten.

Über diesen gelangt man schnurstracks ins Willy-Brandt-Haus. Erst seit fünf Jahren gibt es die Gedenkstätte, für die sich maßgeblich Grass - Freund und politischer Weggefährte des Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers - eingesetzt haben soll. "Bürger für Brandt" prangt auf einem 70er-Jahre-gelben Dokument - das von Grass konzipierte Wahlkampfprogramm: "Unser Land braucht keine Panikmacher oder Krisen- und Inflationsschwätzer. Deutschland braucht einen Kanzler von Format."

In sieben Räumen lässt sich das 20. Jahrhundert auf den Spuren Brandts erkunden - von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung. Schriften, Briefe und Fotos, aber auch Filme und O-Töne aus Reden und Interviews. Über einen Chip können die Besucher verschiedene Versionen abrufen - für Erwachsene, Kinder und in Englisch. Das Willy-Brandt-Haus ist in einem schicken Patrizierhaus in der Königstraße untergebracht. Brandt hingegen wurde im Arbeiterviertel St. Lorenz geboren. Wie in den anderen Nobelpreisträger-Museen hat man allerdings auch hier das Gefühl, Lebensräume zu betreten statt Ausstellungen. Fast kommt man sich dabei wie ein Eindringling in private Heiligtümer vor. Zu der Wohnzimmeratmosphäre passt, dass sich die Museen allesamt als "Häuser" bezeichnen.

An den wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Lübeck führt der Nobelpreisträger-Spaziergang fast automatisch vorbei. Die Altstadtinsel misst maximal zwei Kilometer, "selbst Amerikaner können hier alles zu Fuß erkunden", sagt Bartels. Etwas abseits steht das Holstentor, das letzte von ursprünglich vier Stadttoren, wie eine in die Jahre gekommene Bühnengröße leicht in sich zusammengesunken, nicht mehr so makellos wie die Marzipan-Edition bei Niederegger, aber dennoch umschwärmt von eifrig fotografierenden Bewunderern. In den Buddenbrooks fährt Tony auf dem Weg nach München hier durch.

Roman und Realität, Kulturgut und Kommerz liegen auf der Altstadtinsel dicht beisammen. Und so erfährt man, dass Lübeck auch so eine Art "Madame Tussauds"-Kabinett besitzt, den Niederegger Marzipan-Salon. Natürlich sind die Figuren nicht aus Wachs, sondern aus Mandelmasse gefertigt - nach Sieben-Generationen-Rezeptur seit 1806. Auch Thomas Mann befindet sich unter den lebensgroßen Persönlichkeiten im 2. Obergeschoss des Niederegger-Cafés. Welch triftiger Grund für den bildungshungrigen Touristen, um noch einmal in das Sündenbabel einzukehren. Diesmal bescheidet er sich aber, satt an Eindrücken, mit Kaffee schwarz.

Pilar Aschenbach

Die Museen im Internet

Buddenbrookhaus: www.buddenbrookhaus.de 
Günter-Grass-Haus: http://grass-haus.de/de/49/home.html   
Willy-Brandt-Haus: www.willy-brandt-luebeck.de