Deutschland

Vom Todesstreifen zur Lebenslinie

Naturführer Jürgen Starck.

Altmark: Eine Radtour entlang des Grünen Bandes

Entlang der ehemaligen innerdeutschen Staatsgrenze erstreckt sich heute das so genannte Grüne Band. Fotos: af

Über die deutsche Geschichte ist Gras gewachsen. Und nicht nur Gras. Auch Bäume, Sträucher, grünes Dickicht. Jürgen Starck bremst kurz ab, duckt sich unter einem tief hängenden Ast hindurch, dann tritt er wieder fester in die Pedale. Der drahtige Mann mit strahlend blauen Augen und grau-meliertem Bart ist häufig im Schatten der deutschen Geschichte unterwegs. Seit zehn Jahren radelt der Naturführer mit Touristen durch jenes Gebiet, das einst West und Ost trennte, und zeigt ihnen das Vierländereck im Norden der Altmark, wo Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern aufeinandertreffen.

Entlang der ehemaligen innerdeutschen Staatsgrenze erstreckt sich heute das so genannte Grüne Band. Der urwüchsige Streifen Natur schlängelt sich auf 1.393 Kilometern Länge von der Ostsee bis ins sächsisch-bayerische Vogtland, um dann seinen Weg durch andere europäische Staaten fortzusetzen. Starck drosselt das Tempo und zeigt auf einen hüfthohen Steinpfosten im Wald. "An dieser Stelle begann zu DDR-Zeiten die fünf Kilometer breite Sperrzone", erklärt er. Wer sie betreten wollte, brauchte einen Passierschein, der von einem Volkspolizisten misstrauisch geprüft wurde.

Der eiserne Vorhang kam der Natur ungewollt zugute. Wildblumenwiesen, Erlenbruchwälder und Kiefernhaine wucherten hinter Wachtürmen und Stacheldrahtzäunen. Fischotter, Schwarzstörche, Laubfrösche und Große Bartfledermäuse ließen sich zwischen Kontrollposten nieder. Seltene Orchideenarten und Schlüsselblümchen rankten entlang der Betonplatten, über die Grenzsoldaten patrouillierten.

"Hier", sagt Starck und weist mit einer flüchtigen Handbewegung ins Dickicht, "liegen Schönheit und Schrecken nah beieinander." Viele Dörfer, die zu dicht an der Grenze lagen, gebe es heute nicht mehr. "Aktion Ungeziefer" nannten Stasi und Volkspolizei die Aktion, in der die Dorfbewohner aus ihren Höfen vertrieben wurden. "Ihre Häuser wurden plattgemacht, um den Grenzsoldaten ein freies Schussfeld zu schaffen", berichtet Starck.

Andere Orte wurden mit Kasernen und Bunkern aufgerüstet, etwa Ziemendorf, ganz im Norden Sachsen-Anhalts, durch das Starck seine Besucher führt, bevor er wieder auf einen Waldweg abbiegt. Ein hölzernes Schild weist zur "Wirler Spitze", einer Inlanddüne mitten im Wald. Dort steigt der Naturführer vom Rad und erklimmt mit raschen Schritten den sandigen Hügel. Zu seinen Füßen zieht sich eine spärlich bewachsene Achse quer durch den Kiefernwald. Es ist der ehemalige Todesstreifen.

Wo einst Stacheldraht und Selbstschussanlagen die Menschen fern hielten, ist heute viel Leben. "Es ist schon seltsam, an dieser Stelle hatte ich die schönsten Naturerlebnisse", sagt Starck und berichtet von bellenden Rehböcken und schnurrenden Nachtschwalben, von Nachtigallen, die bei Sonnenaufgang singen und roten Milanen, die über die Bäume kreisen.

Obwohl Türme und Mauern längst niedergerissen wurden, ist der Verlauf des Todesstreifens noch gut zu erkennen. Regelmäßig werden Kiefernsprösslinge, die sich vom Wald her ausbreiten, herausgerissen. Der nahezu kahle Streifen inmitten des Grüns soll verdeutlichen, wo Ost und West in aller Brutalität aufeinandertrafen.

Auf dem Weg zurück zu seinem Rad hebt Starck ein Stück Metall vom Boden. Es ist die Feder einer Sprengmine. Eine von rund zwei Millionen, die zu DDR-Zeiten entlang des Todesstreifens platziert worden waren. "Ein Überbleibsel der Geschichte", sagt Starck bevor er davonradelt. Ein Teil der Geschichte, über die noch lange kein Gras gewachsen ist.
Alexandra Frank