Deutschland

Pech im Spiel, Pech in der Liebe

Ehekrach im Park: Gianna Matysek in der Rolle der Anna ...

Besessen vom Glücksspiel und einer unerwiderten Liebe: Eine Zeitreise mit dem Dichter Dostojewski durch Wiesbaden

... und Oliver Klaukien als Fjodor Dostojewski, hier im Foyer des Kurhauses.

Schlechte Nachrichten im "Nirgendwo Bote": Die Spielbanken sollen geschlossen werden.

Dostojewski in seinem Element - am Spieltisch im Casino. Fotos: pa

Anna ist außer sich. "Eine kleine Schwäche deiner Glückssträhne?", zetert sie und richtet ihren Schirm wie ein Florett auf ihren Mann: "Fjodor, du bist bankrott!" Dieser aber hört nicht auf, sie inbrünstig anzuflehen, als ginge es um sein Leben. "Bitte Anna, du musst mir 30 Gulden geben, nur dieses letzte Mal, Fortuna wird mir hold sein, ich spüre es." Anna weigert sich und schimpft weiter: "Und was, wenn du wieder verlierst? Womit sollen wir dann unsere Hotelrechnung begleichen?"

Dieser Ehekrach, der sich im Wiesbadener Park vor dem Staatstheater ereignet, ist nur inszeniert: von dem Schauspieler Oliver Klaukien in der Rolle des russischen Dichters Fjodor Michailowitsch Dostojewski und der Musical-Aktrice Gianna Matysek als seine Frau Anna. Sie im hellbau-weißen Spitzenrüschenkleid mit Schirmchen für die vornehme Blässe und Geldbeutel am Handgelenk, er mit Zylinder, Gehrock und leeren Taschen.

Auf dem Marktplatz hat uns das Duo in Empfang genommen - für eine "Zeitreise mit dem Spieler Dostojewski" ins Wiesbaden des 19. Jahrhunderts. Zur Begrüßung schüttelt dieser reihum die Hände und versichert euphorisch: "Ich spüre, Sie haben heute eine Glückssträhne, Madame." Mit der Gruppe im Gefolge flanieren die Kostümierten in Richtung Warmer Damm, einem Park im Stil eines englischen Landschaftsgartens mit Weiher, Wasserfontäne, ehrwürdigen Baumriesen und Denkmälern für Kaiser Wilhelm I. und Schiller. Als die Ampel an der Wilhelmstraße auf Grün springt, ruft Dostojewski "Zero" und hüpft hurtig voran. Schließlich führt der Weg zum Casino, juchhe! Vom Habenichts zum Millionär von jetzt auf gleich, heute wird es klappen!

Unterwegs plaudert er fast pausenlos und schwärmt von Wiesbaden: diese Eleganz, diese weitläufigen Parks, diese großartigen Konzerten, diese wohltuenden Thermalquellen, dieses milde Klima ... Auf der Durchreise nach Paris sei er dieser bezaubernden Stadt erlegen. Nun ja, das ist wohl schwer geflunkert, denn Dostojewski war zu jener Zeit nur von zweierlei Leidenschaften besessen: dem Glücksspiel und der Liebe zu Apollinarija Suslowa.

Abrupt kippt dann auch seine Stimmung und mutiert die Schwärmerei zur Schimpftirade: Wiesbaden sei eine Hochburg habsüchtiger Hochstapler, ein Haufen eitler Bonvivants und machtgieriger Egozentriker. "Der Reichtum hat die Geldritter angezogen wie der Mist die Fliegen", pflichtet Anna bei. Es sei eine "regelrechte Epidemie der entfesselten Geldgier ausgebrochen". Dostojewski wettert noch ein Weilchen weiter über die typisch westeuropäische Art, Kapital anzuhäufen, anstatt es wie die Russen nach Herzenslust zu vergeuden, und jammert: "Ich habe solche Sehnsucht nach St. Petersburg."

Wir gelangen zu der Stelle im Park, an der sich Anna und Fjodor um Geld streiten. Das Wortgefecht könnte im Jahre 1871 stattgefunden haben, als Dostojewski in Wiesbaden weilt, "um sich am Spieltisch finanziell zu sanieren". Das hatte er bereits zweimal zuvor versucht - mit desaströsem Ergebnis: Er verprasste sein gesamtes Hab und Gut bis auf die letzte Kopeke. Zu allem Übel steht Dostojewski in dieser Pleiteperiode auch noch unter erhöhtem Produktionsdruck. Um seine Reisen zu finanzieren, hat er bei seinem Verlegers Stellowskij einen Knebelvertrag unterschrieben: 3.000 Rubel Vorschusshonorar mit der Bedingung, dass der Dichter alsbald einen neuen Roman abliefert, andernfalls er alle Rechte an seinen künftigen Werken verlieren würde.

Statt zu versagen läuft Dostojewski im Angesicht der Katastrophe zur Hochform auf. Kurz vor Abgabeschluss diktiert er seiner Stenografin und späteren Frau Anna Grigorjewna Snitkina in nur 26 Tagen den Roman "Der Spieler", dessen autobiografische Züge sich wie eine Selbsttherapie lesen. Der Ich-Erzähler Aleksej Iwanowitsch leidet wie sein Autor an Spielsucht und unter einer unerwiderten Liebe - im Buch ist es die schöne Russin Paulina. Pech im Spiel, Glück in der Liebe? Weder auf Dostojewskis noch auf Aleksejs Schicksal trifft dieses Sprichwort zu.

In der Fortsetzung des Rundgangs verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen Gestern und Heute zunehmend. Sind wir gerade in Wiesbaden oder in Roulettenburg, dem fiktiven Kurort in "Der Spieler", einem Mischmasch aus Wiesbaden und Bad Homburg? Sind wir im reichen Wiesbaden der Dostojewski-Zeit oder im immer noch reichen Wiesbaden unserer Zeit, dessen hohe Millionärsdichte eine Luxusladenperlenkette wie die Wilhelmstraße hervorbringt? Die Analogien sind zahlreich.

Architektonisch hat das 19. Jahrhundert Wiesbaden geprägt wie kein anderes. Die Boomtown schwoll von 2.500 auf 100.000 Einwohner an, was mit einer stürmischen Bautätigkeit verbunden war. Es entstanden neue Stadtgebiete mit repräsentativen Häusern, Hotelpalästen und Villen im Stil des Klassizismus, Jugendstils und Historismus. Millionärsfamilien und Großfirmen siedelten sich an, und Wiesbaden - auch als "Nizza des Nordens" gerühmt - wurde zur Stadt mit den meisten Millionären Deutschlands. Diesem Aufschwung konnte auch die Annexion durch Preußen im Jahr 1866 keinen Abbruch tun. Wiesbaden war nur fortan nicht mehr der Regierungssitz des Herzogtums Nassau, sondern Zentrum eines neu gebildeten Regierungsbezirks.

Dostojewski versucht, die Gruppe durch den Seiteneingang ins Kurhaus mit dem Casino zu schmuggeln. Der gestrige Abend verlief nicht so rosig, die Glücksgöttin geizte mit ihren Gaben. Abgeschlossen. Also mit möglichst selbstverständlicher Miene durch die vordere Drehtür hereinspaziert. Bevor wir das Reich von Fortuna betreten, weiht uns der Zocker noch in die Psyche seinesgleichen ein. "Es gibt vier verschiedene Typen." Da wäre zunächst der Gelegenheitsspieler, den es nur zu besonderen Anlässen ins Casino verschlägt. Der zweite Typ ist der Mathematiker, der vollkommen emotionslos nach einem ausgeklügelten System setzt. Der dritte ist der Nonchalante: Ihm geht es nicht ums Gewinnen, sondern um Aufsehen. Und der vierte? "Das ist der risikofreudige Russe", doziert Dostojewski. Er habe keinerlei Zweifel, dass das Roulette-Spiel eigens für seine Landsleute erfunden wurde.

Wie seine Romanfigur Aleksej klammert sich Dostojewski an die Hoffnung, letzten Endes zu gewinnen, man müsse nur ein ruhiges Gemüt bewahren. Dass ihm das nicht besonders gut gelungen ist, belegt eine Beschreibung von Anna nach einem Casino-Besuch: "Sein Gesicht war hochrot, seine Augen rot unterlaufen, als ob er betrunken wäre." Sie stellt fest, dass sich ihr Mann nicht einer einfachen Willensschwäche hingibt, sondern dass ihn eine "alles verzehrende ungestüme Leidenschaft, eine Elementargewalt" beherrscht.

Wir stehen jetzt im Casino. Holzvertäfelte Wände, mächtige Lüster an den hohen Decken. "Es war an einem schwülen Sommerabend", setzt Dostojewski an. Um die Spieltische hatte sich eine illustre Gesellschaft versammelt. "Ich setze und gewinne, setze und gewinne ... Mein Herz bebt, die Finger zittern. Ich setze 100.000 Gulden - und gewinne erneut." Wie die Kugel im Roulette-Kessel irrlichtert Dostojewski zwischen den Tischen hin und her. "Setzte und gewinne, setze und gewinne ..." Diese Glückssträhne ist allerdings nicht aus Aufzeichnungen überliefert, sondern eine Passage aus "Der Spieler".

Aleksejs Liebe zu Paulina weist Parallelen zu seiner Leidenschaft für das Glücksspiel auf: Beides ist unbändig, eine Sucht, eine Hassliebe. In diesem Konflikt kann es aber nur einen Gewinner geben. "Von dem Augenblick an, da ich [...] angefangen hatte, die Goldhaufen einzuheimsen, war die Liebe zur Nebensache geworden", schildert Aleksej. Als ihm Paulina schließlich ihre Zuneigung gesteht, ist es zu spät. Gegen die "Poesie des Spiels" ist sie machtlos. Aleksej trudelt unaufhaltsam in den Abgrund. "Ich verliere von neuem jedes Gefühl für Ordnung und Maß und bewege mich immer im Kreise, im Kreise, im Kreise ..." Der letzte Satz in "Der Spieler" stimmt wenig hoffnungsvoll: "Morgen, morgen hat alles ein Ende!"

Für Dostojewski ist es glimpflicher ausgegangen. "Fjodor, besinne dich auf deine Fähigkeiten, du bist Schriftsteller", appelliert Anna an das letzte Fünkchen seiner Vernunft. "Aber Anna, ohne das Spiel bin ich eine Zero, eine Null, ein Nichts! Soll ich mir etwa an diesen spröden Vernunftmenschen ein Beispiel nehmen?", fragt er ungläubig und zeigt auf uns. Wir sind mittlerweile im Kurpark angekommen. Dostojewski liest seiner Frau aus dem "Nirgendwo Bote" vor - und seine Augen werden immer größer. Die Spielbanken im Deutschen Reich sollen geschlossen werden! Der Weltuntergang! Um was soll sich das Leben drehen, wenn nicht mehr ums Roulette? Für Wiesbaden war der Schlag nicht ganz so schlimm. Die Stadt hatte das Verbot kommen sehen und zum Ausgleich schon eine andere Geldquelle zum Sprudeln gebracht: Zum 1. April 1870 war eine Kurtaxe eingeführt worden.

Im September 1872 ist es dann soweit. Ein letztes Mal hüpft im Wiesbadener Casino die kleine Elfenbeinkugel durch den schwarz-roten Kessel, dann geht nichts mehr, rien ne va plus. "Dieses puritanische Gesetz sollte sehr lange bestehen", seufzt Dostojewski. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 wurde die Wiesbadener Spielbank wieder in Betrieb genommen. Dostojewski hat das nicht mehr miterlebt. "Für die Nachwelt war seine Spielsucht gewissermaßen ein Segen", resümiert Anna. Ansonsten wäre wohl "Der Spieler" nicht entstanden.

Viel haben wir von der hessischen Landeshauptstadt auf der nur 90 Minuten und wenige Hunderte Meter langen Zeitreise nicht gesehen, dafür aber ein Filetstück Wiesbadener Pracht: den Schickimicki-Boulevard Wilhelmstraße, auch "Rue" genannt, und das Kurhaus mit der längsten Säulenhalle Europas, den Kurhauskolonnaden. Wir haben das barocke Staatstheater gestreift und die üppigsten Parks der Stadt, den Warmen Damm und den Kurpark. In Letzterem steht am Nizzaplätzchen eine Büste Fjodor Dostojewskis. Wer weitere Stationen des Russen anschauen will: Er soll im Nassauer Hof und im Schwarzen Bock abgestiegen sein. Beide Luxushotels gibt es heute noch, sie zählen zu den feinsten Adressen der 270.000-Einwohner-Stadt.

Eine Facette Wiesbadens scheint der Poet übrigens wirklich gemocht zu haben. In einem Brief an seinen Bruder Michail 1863 schreibt er: "Am Rhein, wo ich mich etwas länger aufgehalten habe, war das Wetter wunderbar, und was ist das für eine Gegend!"  

Pilar Aschenbach

 

Buchungsinformationen

Nächste öffentliche Termine für die Führung "Mit dem Spieler Dostojewski auf Zeitreise" sind der 24. Juni und der 23. September. Das Duo lässt sich auch für Gruppen und Veranstaltungen buchen. Infos unter der Telefonnummer 06 11 / 1 72 99 30 und unter www.wiesbaden.de.