Kanada

Starkes Gefälle

Toronto ragt weit in den Himmel – und hat zugleich eine Untergrundstadt. Die Niagarafälle ziehen jährlich rund 14 Millionen Besucher an.

Toronto ragt weit in den Himmel – und hat zugleich eine Untergrundstadt. Die Niagarafälle ziehen jährlich rund 14 Millionen Besucher an. Fotos: pa, FVA Ontario

Kanada: Toronto-Besucher können Stadt- und Naturabenteuer kombinieren

Im Winter fegt ein eisiger Wind durch Toronto und die Menschen von den Straßen. Sie fliehen aus den Hochhausschluchten unter die Erde, wo ein 27 Kilometer langes Fußgängertunnelsystem entstanden ist, ein Schutzraum für kalte Tage. Mehr als 50 Gebäude sind an „Path“, wie die Untergrundstadt heißt, angeschlossen: Kaufhäuser, Hotels, Attraktionen und andere öffentliche Einrichtungen wie das Rathaus. Es gibt 20 Parkhäuser, über 60 Knotenpunkte und 1.200 Geschäfte. „Path“ steht als größtes unterirdisches Einkaufszentrum im Guinnessbuch der Rekorde. Damit sich keiner verirrt, zeigen bunte Wegweiser die Himmelsrichtungen an. Langfristig soll die Parallelwelt auf 60 Kilometer erweitert werden.

Auch in der Oberstadt von Toronto müssen Ortsfremde nicht untergehen. Zwar zählt die größte Metropole Kanadas rund 2,7 Millionen Einwohner, die in Vierteln wie Chinatown, Little Italy und Greektown rund 100 Sprachen kultivieren. Doch das schachbrettartige Straßengefüge erleichtert die Orientierung enorm. Eine der Hauptschlagadern ist die Yonge Street, die längste Straße der Welt, die sich quer durch Toronto über 2.000 Kilometer bis in den Norden der Provinz Ontario zieht. Die Yonge Street ist ein idealer Parcours für Shopping-Marathonis. Bei schlechtem Wetter lässt sich der Kaufrausch im Eaton Centre verwirklichen, einer überdachten Einkaufszone mit Hunderten von Läden.

Toronto Tourism behauptet, dass die Kunst- und Kulturlandschaft der Stadt quicklebendig ist. Und tatsächlich löst sich die Werbephrase nicht in Ernüchterung auf. Im vergangenen Jahr wurde die Art Gallery of Ontario wiedereröffnet, und am Royal Ontario Museum, Kanadas größtem Geschichts- und Kulturmuseum, ist ein neuer Teil angedockt. Er ragt wie ein Kristallsplitter aus dem Gebäude, entworfen von Stararchitekt Daniel Libeskind. Abstrakte Blüten treibt die Kunst in der Queen Street West, wo sich Galerien und Szene-Restaurants wie das Nyood einquartiert haben. Es verbirgt sich hinter einer finsteren Fassade und blendet mit weißem Interieur. Die schwarzen Deckenlampen sehen aus wie Spinnenbeine, und die Kellner sind zu adrett, um nicht schwul zu sein.

Durchdesignt bis in den letzten Winkel ist der Distillery District. Im 19. Jahrhundert wurde in dem Bezirk im Südosten der Stadt harter Stoff produziert; heute sind rostige Oldtimer vor Backsteinmauern arrangiert. Galerien, Boutiquen und Feinschmeckerläden heischen um Aufmerksamkeit, darunter auch der Schoko-Shop Soma mit duftigen Auslagen. Soma steht für einen Rauschtrank, und mit Soma wurde in Aldous Huxleys Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ gedopt.

In Toronto gibt es auch noch so etwas wie eine Überstadt. Wer sich dem Guide mit dem klangvollen Namen Bruce Bell anschließt, gelangt auf der dreistündigen Führung über Kathedralen, Märkte und Museen in das Spitzenrestaurant Canoe im 54. Stock des Toronto Dominion Bank Towers. Noch höher hinaus geht es im Restaurant des CN Towers, das auf 351 Metern mit Panoramafenstern gemächlich rotiert. Wer sich den Appetit verderben will, wirft einen Blick durch die Glasböden in die Tiefe.

Ein Tagesausflug führt in eine andere Welt: nach Niagara-on-the-Lake, ein 12.000-Seelen-Ort mit Puppenhaus-Flair. An der Hauptstraße, die mit Musik besäuselt wird, stehen Läden mit Spezialitäten und Nippes. Der Ort lebt vom Fremdenverkehr.

Gegen die touristische Vermarktung der Niagarafälle ist das allerdings harmlos. Im Rücken des Naturschauspiels erhebt sich heute eine wuchtige Hotelfront, und im Besucherzentrum attackieren Shops wie Pop & Lolly’s die Geldbörse. Zuletzt wurde in die 4D-Attraktion Niagara’s Fury investiert. Sie lässt die Touristen in einem 360-Grad-Theater den „Zorn von Mutter Natur“ spüren – mit Sprühregen auf schaukelnder Plattform.

Rund 14 Millionen Besucher zählt die größte Attraktion Kanadas jährlich. Man kann sich den Fällen mit dem Schiffchen Maid of the Mist nähern oder mit einer Seilbahn über die Gischt schweben. Man kann sich auch der Führung „Behind the Falls“ anschließen – oder mit einem Helikopter über die 670 Meter breiten Wassermassen erheben. Auf dem Rundflug kann man erkennen, dass die Fälle zweigeteilt sind. Und seit dem Amerikanisch-Britischen Krieg spaltet sie auch eine Landesgrenze. Die kleinere Hälfte ist den Amerikanern zugefallen.
Pilar Aschenbach
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