Kanada

Die Trommler vom Berge

Vom Mont Royal blickt man auf die pulsierende Millionenstadt im St. Lorenz-Strom.

Montreal-Besucher können sich bei zahlreichen Festivals und Events unter die Einheimischen mischen

Der Cirque du Soleil zeigt am Hafen sein Programm „Kurios“. Fotos: mw

Man hört sie schon von weitem. Drängend, rumpelnd wie ein Schnellzug aus dem 19. Jahrhundert, dann anschwellend wie Kanonendonner, zwischendurch nur rasselnd wie ein Schwarm Heuschrecken hallen ihre Trommelschläge durch den Wald. Kaum ist der erste Anstieg auf die Lichtung unterhalb des Berges geschafft, der Montreal seinen Namen gab, sieht man sie auch: Vor der Wolkenkratzer-Skyline der 1,6-Millionen-Stadt im St. Lorenz-Strom stehen, sitzen und hocken wohl 100 Menschen im Halbkreis und schlagen auf alles ein, was einen Resonanzraum hat.

Bongos und Djembes haben sie mitgebracht, aber auch ein paar alte Ölfässer, Blechdosen und Farbeimer. Mit Kind und Kegel kommen sie jeden Sonntagmittag hinauf in den Jeanne-Mance Park unterhalb der mächtigen Engelsstatue, Einheimische und Touristen jeden Alters, und treffen sich zum „Tam Tam Montreal“. Ein Dirigent oder Vortrommler ist nirgends zu erkennen. Jeder kann mitmachen. Scheinbar chaotisch und doch voller gemeinsamer Begeisterung bringen die Hobby-Musiker kostenlose Rhythmen in die grüne Lunge der Stadt.

Dabei ist das „Tam Tam“ nur eine von vielen Gelegenheiten, die Lebenslust der Montrealer Bevölkerung kennen zu lernen. Nach schweren Jahren des Strukturwandels sind heute 86 Prozent aller Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Viele Schwergewichte der Computerspielbranche haben in der Stadt ebenso ihr Zuhause wie der Cirque du Soleil, der in einem nostal‧gischen Zirkuszelt am Hafen sein neues Programm „Kurios“ präsentiert.

Die ganze Stadt sprüht vor Kreativität. An Sommerwochenenden tanzen Tausende tagsüber unter freiem Himmel zu Techno-Sounds beim „Piknic Electronic“. Abends trifft man sich dann zum Feuerwerkswettbewerb am Hafen. „Oft sind gleich mehrere Festivals gleichzeitig“, schwärmt Vincent Lefebvre, der unter anderem für das Internationale Jazzfestival arbeitet. In diesem Juli erlebte es seine 35. Auflage mit kostenlosen Konzerten auf vier Bühnen im Stadtzentrum und in Saalkonzerten mit Weltstars von Aretha Franklin bis Snoop Doggy Dogg. Gleichzeitig unterhielten Straßenkünstler ihr Publikum beim Zirkus-Festival, während Tausende andere zum Hare-Krishna-Festival zogen.

Über Genregrenzen macht man sich dabei erfrischend wenig Gedanken. Das reicht bis in die Gastronomie, wo auf Gourmet-Touren allen Ernstes Poutine als Spezialität angeboten wird – eine Kalorienbombe aus Fritten in Bratensoße mit großen Brocken Cheddar-Käse.

Andererseits hat der erst 30 Jahre alte ehemalige Tellerwäscher Chey Antonin Mousseau das Museumsbistro „Le Contemporain“ – eines von schätzungsweise 4.000 Restaurants in der Stadt – in nur zwei Jahren zum Geheimtipp für Feinschmecker entwickelt. Alle paar Wochen überrascht er seine Gäste mit neuen Kreationen, für die inklusive der Kräuter und Gewürze ausschließlich lokale Produkte Verwendung finden – und zur Dekoration immer ein paar essbare Blüten aus den eigenen Blumenkästen. Eben hat Mousseau seinen zweiten Laden eröffnet. Wie viele Ableger plant er mit 40? „Vielleicht keinen mehr. Vielleicht bin ich dann Gärtner.“

Keine Scheu vor Neuem prägt selbst den Umgang mit der Vergangenheit. Das Museum Point-A-Calliere am Hafen wurde direkt über die Mauerreste des 1642 von französischen Entdeckern gegründeten ersten Dorfes gesetzt. In einer fulminanten Multimedia-Show erweckt es die spärlichen Ruinen halbstündlich zum Leben. In einigen Jahren sollen Besucher unterirdisch weiter zu den Fundamenten des ersten kanadischen Parlaments spazieren können – und zwar durch einen historischen Abwasserkanal.
Martin Wein
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